Kansas - Leftoverture (1976)

02.03.2015 23:17

Veröffentlichung: Oktober 1976

Genre/ Stil: Progressive Rock, Hard Rock

 

Besetzung:

Steve Walsh - Orgel, Klavier, Gesang, Synthesizers, Vibraphon

Dave Hope - Bass

Robby Steinhardt - Violine, Viola, Gesang

Kerry Livgren - Gitarre, Clavinet, Moog, Synthesizer, Klavier

Phil Ehart - Schlagzeug 

Rich Williams - Gitarre

 

Titelliste:

1. Carry On My Wayward Son

2. The Wall

3. What's On My Mind

4. Miracles Out Of Nowhere

5. Opus Insert

6. Questions Of My Childhood

7. Cheyenne Anthem

8. Magnum Opus

 
 

Kansas haben in den 70er Jahren ein Kunststück vollbracht, welches für damalige Verhältnisse bereits beeindruckend war, welches aber aus heutiger Sicht gesehen schier unmöglich ist. Wenige Bands haben das geschafft, darunter zum Beispiel Emerson, Lake & Palmer, Deep Purple, Pink Floyd oder auch Rush. Wovon spreche ich? 

All diese Bands haben es geschafft, unglaublich durchdachte, komplexe Musik zu schreiben und mit dieser für die breite Masse eigentlich viel zu vielschichtigen Musik Stadien zu füllen. Die einzige Band, die das meiner Ansicht nach heute noch schafft, ist Muse. Sämtliche andere Bands, deren Musik im Ansatz ausufernd oder kompliziert ist, spielen heute in kleinen Clubs oder, in wenigen Ausnahmen, höchstens vor „nur“ 4000-10000 Menschen (Dream Theater). Doch nicht damals. Ein Werk wie Magnum Opus oder auch Incomudro vor 40.000 gebannten Menschen zu spielen, die einem alle zuhören und dabei weder headbangen oder einen Moshpit erzeugen müssen, war damals noch viel eher möglich als heute.

Gut, man muss anerkennen, dass die Musik von Kansas trotz aller Komplexität durch einen gewissen „Mitwippcharakter“ ausgezeichnet war, dem die Band letztendlich vielleicht auch einen nicht zu unterschätzenden Anteil ihres kommerziellen Erfolges zu verdanken hat. Das Wort „Rock“ in der Genrebezeichnung Progressive Rock hat hier noch dazu einen sehr hohen Stellenwert. Das unterscheidet die Band von Genregrößen wie beispielsweise Genesis oder Yes, deren geniale Frühergüsse, wie Selling England By The Pound oder Tales From Topographic Oceans (was für Namen), viel weniger „Rockmusik“ im eigentlichen Sinne zu bieten hatten. Diese Tatsache und der Umstand, dass die Band im großen „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ beheimatet und zugange war, bescherten der Band Verkaufszahlen, die bereits im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens über die 10 Millionen Grenze hinausgingen. Seltsamerweise veranlasste es die Band „erst“ Ende der 70er Jahre, wie alle anderen Gruppen um sie herum, eingängigere und einfachere Musik zu veröffentlichen.

Doch nicht so um 1976. Leftoverture beinhaltet zwar auch eine kürzere, griffige Songs, doch auch die zeichnen sich durch liebevolle und raffinierte Details aus.

 

Einer dieser Songs eröffnet das Album auch gleich. Carry On My Wayward Son ist wohl der zweitbekannteste Song der Band (der mit großem Abstand bekannteste ist denke ich mal Dust In The Wind) und gar nicht mal so einfach strukturiert wie man beim ersten Hördurchlauf vielleicht denken mag. Direkt ab der ersten Sekunde fällt der perfekte Satzgesang der Band auf, wie man ihn besser vielleicht nur von den Eagles kennt. Direkt danach wird einem ein ungemein rockendes Riff und die erste rhythmische Gemeinheit entgegengeworfen. Der Song wird plötzlich ternär bzw. geshuffelt. Nach dem rockenden Intro befindet man sich auf einmal in einer Ballade. Der Refrain besteht aus den eingehenden Gesangsharmonien und ist zum mitsingen durchaus geeignet. Danach kommt bereits ein längerer Soloteil, eine Bridge, ein weiterer Refrain und ein beinahe instrumentales Outro mit diversen Soloteilen. Der letzte Akkord wird als Maj7-Akkord unaufgelöst stehen gelassen.

Carry On My Wayward Son ist rein äußerlich ein riffender Rocksong wie es auch Highway To Hell (AC/DC) oder Alright Now (Free) welche sind. Doch hört man mal genau hin, so eröffnet sich einem etwas, das ich gern als Steely-Dan—Effekt bezeichne: Eine große Vielzahl kleiner Details hinter einer scheinbar einfachen Fassade eines Songs, der bestenfalls auch noch einen eingängigen Refrain besitzt. Dahingehend ist dieser Song eigentlich ein Paradebeispiel für das Konzept der Musik von Kansas.

 

The Wall geht in eine andere Richtung. Bei diesem Song finden sich diverse Abschnitte, die auch von Symphony X oder Dream Theater, aber auch von Genesis (in diesem Fall verhält es sich wohl andersherum) hätten stammen können. Er gibt sich als hymnische Ballade mit vielen Mollakkorden und in Terzen ausgesetzten Gitarren. Die harmonische Führung der Strophe ist schlicht genial und romantisch angehaucht. Nicht zuletzt deshalb kommen bei mir bereits hier Gedanken an ruhigere Stellen von Symphony X (The Odyssey, Communion & The Oracle) auf. Die Strophe baut sich langsam aber steig auf, hin zu einem Refrain, der nicht folgt. In der Tat hat der Song keinen richtigen Refrain, sondern besteht nur aus Strophen und Bridges. Ungefähr in der Mitte findet sich ein kurzes Frage-Antwort Spiel von Klavier und Bass, das von seiner verträumten Art her auch von Genesis oder Supertramp hätte stammen können. Schließlich wird der Song mit einem Instrumentalteil zum Ende gebracht, in welchem sich eine Melodie versteckt, die verdächtig nach Dream Theaters Six Degrees Of Inner Turbulence klingt. Nun, man hört sehr oft, welche Interpreten die neuere Bands gehört haben müssen ;).

The Wall ist ein super Song, der sich irgendwo zwischen Ballade und Bombastkracher bewegt und vom Gehalt und seiner bedeutungsschwangeren Art her eigentlich noch 6-10 Minuten länger hätte sein können. Er überzeugt durch eine Stimmung, die immer zwischen verträumt-fließend und bombastisch-hymnisch schwankt.

 

What’s On My Mind schlägt wieder eher in die Kerbe des Openers und ist in der Tat der einzige Song der Platte, den man guten Gewissens als einen einfach strukturierten Rocksong  bezeichnen kann. Hier haben wir im Intro zig Gitarren, die riffen und solieren, während die erste Hälfte der Strophe als Bruch beinahe schlagerhaft und liebessäuselnd wirkt. Doch im Refrain haben wir wieder den typischen Satzgesang und abermals riffende Gitarren. Der Soloteil ist dann wieder typisch hardrockig, wenn auch einfacher gehalten. Der Song kompensiert die fehlende Vielschichtigkeit (muss ja nicht alles immer komplex sein) durch griffige Melodien und einen ziemlich „coolen“, amerikanischen Charakter. Und der Satzgesang ist wie immer geil zu hören. Ganz am Ende erklimmt Sänger Walsh mal ganz kurz eine Höhe, bei der ich mich immer frage ob ich mich verhört habe. Der Schluss ist dann etwas Rush-like und extrem kompakt.

 

Mit Miracles Out Of Nowhere offenbart sich etwas, das sich 25 Jahre später in einigen Symphony X Songs wiederfinden sollte. Wir haben hier einen Song, der für das Genre verhältnismäßig kurz ist (No Son Of Mine von Genesis ist genauso lang), aber einen extrem verschachtelten Aufbau hat. Dieses Prinzip findet sich bei Symphony X bei einigen Balladen, wie Awaken oder Accolade.

Es findet sich kaum mal ein 4/4 Takt, fast jeder Takt wird zum 7/8 verkürzt. Die Melodien sind hymnisch und trotz allem irgendwie eingängig. Trotzdem wirkt der Song zumindest auf mich im Gesamteindruck ziemlich sperrig. Der eingangs erwähnte Mitwippcharakter wird auch völlig weggelassen. Jedoch ist Miracles Out Of Nowhere ein toller Song, dessen Gestalt sich einem halt nicht sofort erschließt.

 

Opus Insert beginnt mit Keyboardflächen und pumpenden Synthie Bässen. Die Dominanz der Keys und der abermals klassisch angehauchte harmonische Kontext lassen mich schlagartig an Songs von Electric Light Orchestra, Queen oder auch Renaissance denken. Das dauert aber nur reichlich 20 Sekunden, danach ist man wieder zu 100% bei Kansas. Die Strophe und die unterbrechenden Bridges sind leider etwas einfältig, aber das Rhythmusfundament darunter ist so saucool, dass man dafür wieder etwas entschädigt wird. Außerdem kommt danach eine hymnische Halftime-Passage und ein Marsch mit Vibraphon- und Pianosoli, die einfach derart gelungen ist, dass die umrahmende Strophe etwas wie ein Scherz wirkt. Und unter diesem Gedanken finde ich sie schon wieder cool.

Im Endeffekt besteht Opus Insert aus 4 grundlegenden Ideen (Intro, Strophen, Marsch und hymnischer Teil), die verschiedener kaum sein können. Es grenzt schon an hoher Kunst, diese 4 Teile sinnvoll und harmonisch aneinanderzureihen- besonders, weil wir hier von einem 4-Minuten Song reden.

 

Questions Of My Childhood ist der einzige Song des Albums, der bei mir leider gar nicht zünden will. Bezeichnenderweise ist der Song mit dreieinhalb Minuten auch einer der beiden kürzesten des Albums, was mal wieder das vielbeschriene Klischee des Prog bestätigt, gute Songs seien meistens lange Songs (und andersherum). Er beginnt schwungvoll, optimistisch, mit einer etwas dudeligen Melodie, die später noch ein paar mal kommt. Die Strophe hat leider bis auf ein paar abrupten Stops und Tonartwechseln melodisch und rhythmisch nicht viel zu bieten. Das Violinensolo retten schließlich den Song etwas. Am Ende wird er auch noch ausgeblendet. Naja. skip, vergessen und weiter.

 

Denn was danach kommt, entschädigt einen voll und ganz. Cheyenne Anthem beginnt wie eine Bombastballade mit Schrammel-Gitarre und Keyboard. Nach einem völlig Umschwung hören wir romantisches Klavier, Hammondorgel, wunderbare Melodien (Symphony X, schon wieder) und einen Kinderchor (!). Letzterer mag etwas kitschig oder überkandidelt sein, aber taucht nur ganz kurz auf und fügt sich prima ein. Das Frage-Antwort-Spiel von Vibraphon und Geige ist daraufhin schlicht wunderschön. Danach werden Akustikgitarre, Drums und Hammondorgel mit einbezogen (vgl. ELP) und der Song nimmt etwas Fahrt auf.

Hier offenbart sich erneut eine große Stärke von Kansas: Sie schaffen es, völlig unterschiedliche Teile gänzlich unpeinlich und sinnvoll in kürzester Zeit ineinander fließen zu lassen. Gerade hatten wir noch traurige Strophen, einen Kinderchor und Flächen, eine Minute später befinden wir uns in einer Art Katz-und-Maus-Polka mit Moog-Solo und einem Klavier, das sich irgendwo zwischen Ragtime und Romantik befindet (klingt in Textform abgefahren, hört sich aber letztendlich doch konventioneller an als man vielleicht vermutet). Danach folgt gleich eine hymnische Reprise, die mit einem Marsch untersetzt ist und Rachmaninov-Arpeggien auf dem Klavier, bevor die Akustikgitarre vom Anfang den Song in sein notweniges, großes Finale führt. Die Opernsängern im Hintergrund ist abermals kitschig, aber super in den Kontext integriert und damit einfach wunderschön.

 

Kansas-typisch steht der längste Song am Ende der Platte. Hier erwartet der eingeweihte Hörer bereits etwas großes, und der Name Magnum Opus ändert daran nichts. Ich bin zwar kein Fan von diesem Namen; er ist rein für die Länge des Stückes auch mal wieder etwas bedeutungsschwanger und hat nichts mit dem Text zu tun, aber irgendwie passt er- denn Kansas waren selten besser als hier.

Am Beginn stehen verhaltene Pauken und Keys, bevor das Grundthema große und breit vorgestellt wird. Ein kurzes Präludium mit Soli von Bass, Vibraphon und Gitarre leiten über in den ersten Gesangspart, der weder Strophe noch Refrain repräsentiert. Auffällig ist, dass der fast 9 Minuten lange Song nur 7 oder 8 Zeilen Text hat (wenn ich dagegen an Peter Gabriels 183 Zeilen von Genesis’ The Battle Of Epping Forest denke..). Gesungen wird passenderweise von der Musik- „It’s really all we’ve got to share“. Wenn man nur heute so denken würde. Es wäre wohl heute eher „Money is really all we want“.. Nunja, ich schweife ab. Es folgt der einzige Bruch des Songs, bevor die Band dem Hörer einen Berg Melodien, Harmonien, Takt-, Stimmungs-, Tempo- und Tonartwechsel entgegenwirft. Nach einem hektischen 6/4-Part, welcher hier und da mal von einer Art verrockten Musicalteil unterbrochen wird, folgen Synchronteile, Soli, Gentle-Giant-artige Frage-Antwortspiele und sogar Riffs, die in einem Metal-Stück nicht fehl am Platze wären. Zwischendurch fegt irgendwo mal eine Geige rum und man scheint im Chaos umherzulaufen. Recht unerwartet, aber trotzdem harmonisch, fährt man den Song nochmal runter und präsentiert ein paar verträumte und leicht skurrile Melodien vom Vibraphon und der Gitarre, bevor der Song nahtlos wird hektischer und rockiger wird. Ein paar steigernde Harmonien leiten dann perfekt über ins Finale. Die letzte halbe Minute gehört dann schließlich - und wie sollte es anders sein - der bombastisch-bedrohlichen Grundthemenreprise, bevor der Song dann überraschend schnell und ohne weiteren Gesang zu Ende gebracht wird.

Wir haben hier einen absolut großen Song vor uns, der dem Progherz keine Wünsche offen lässt. Der Aufbau Präludium-Strophe-Solosolosolofrickelfrickel-Reprise ist dabei zu 100% genretypisch und damit auch perfekt und irgendwie zufriedenstellend. Noch dazu hätte man ein solches Werk einer Stadionband aus dem leeren Nichts der mittleren USA kaum zugetraut.

 

Das trifft allerdings auch für das gesamte Album, nebst natürlich auch vielen anderen Songs von Kansas, zu. Oftmals scheint diese Musik nichts weiter als pompöser Stadionhardrock zu sein (außer natürlich, wenn sie die progressive Breitseite auspacken, wie im letzten Song), dennoch offenbart sie sich nach einigen Hördurchläufen als äußerst komplex, abgefahren und durchgeplant. Trotztdem behält sie weitgehend ihren rockigen Stadioncharakter und eignet sich daher auch für große Zuschauermassen. Ein Prinzip was an vielen Stellen auch von Rush verwendet wird. Welch komplizierte Taktarten im Anfang von The Spirit Of Radio (Permanent Waves, Rush, 1980) verwendet werden wird völlig übertüncht durch die Tatsache, dass sich das Intro optimal zum Luftschlagzeug spielen eignet. Kein Mensch merkt auf Anhieb, dass Carry On My Wayward Son mehrmals zwischen binären und ternären Rhythmen variiert, es kümmert kaum jemanden im Stadion, wie verschachtelt der ein oder andere Song ist, und zwar aus einem Grund: Weil Kansas es vermögen, trotzdem Mitgröhlrefrains zu schreiben („youuu gaat me gooeeeyng!!!“), weil sie es irgendwie schaffen, komplexe Gedanken hinter einfache Fassaden in Form von Rockgitarrenriffs zu stellen und damit zumindest die Hörer, die die Mucke nach dem ersten Durchlauf schon geil finden und sich einen Dreck drum scheren, wie verschachtelt eine Struktur hintergründig ist, auf eine subtile Art und Weise zu verscheißern vermögen. Das, und nur das, ist hier das Kunststück.

 

Bewertung:

Obwohl Kansas hier ein tolles Stück Musik abliefern, war für mich die britische Version des Progressive Rock noch ein Stück grandioser.

 

Vergleichbar mit:

An Stellen glaubt man Einflüsse von Genesis, Yes, Supertramp und ELP zu hören. Andersrum scheinen sich Bands wie Symphony X, Dream Theater und Spock's Beard hieran orientiert zu haben. Generell hat die Musik einen ziemlich eigenen Charakter.

 

 

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