Pain Of Salvation - Scarsick (2007)

21.07.2014 12:05

 

Veröffentlichung: 2007

Genre/ Stil: Progressive Metal, Metal, Crossover, Nu-Metal

 

Besetzung:

Daniel Gildenlöw - Gesang, Gitarre 

Johann Hallgren - Gitarre, Gesang 

Frederik Hermansson - Keyboard 

Johan Langell - Schlagzeug

 

Titelliste:

1. Scarsick

2. Spitfall

3. Cribcaged

4. America

5. Disco Queen

6. Kingdom Of Loss

7. Mrs. Modern Mother Mary

8. Idiocracy 

9. Flame To The Moth

10. Enter Rain

 
 
In Scarsick findet sich ein weiteres tolles Album aus der Küche Gildenlöw. The Perfect Element II berichtet von Kommerz, Mainstream, unberechtigtem Reichtum und dem sprichwörtlichen 'In-den-Himmel-heben' von Künstlern und bekannten Menschen - und kritisiert all das auf Schärfste, ungewohnt und erschreckend direkt.
Gildenlöw verbannt alles, was auf BE verstärkt vorkam, wieder ins Jenseits. Orchester, Latein, Monologe und Instrumentals sucht man vergeblich. Ich finde aber, dass man ein solches Werk nicht wiederholen kann. Daher denke ich, dass ein 'Die-Kirche-im-Dorf-lassen'-Album nicht unangebracht ist. Jedes Instrument ist Hauptakteur, nur Daniels Stimme steht wieder im Vordergrund. Was will man sagen, der Mann ist ein Sangesgott.
Scarsick rockt, Scarsick ist bei allen versteckten Facetten bescheiden, Scarsick ist erdig wie kein zweites PoS-Album.

Das Album ist nicht nur der zweite Teil der 2000 begonnenen Perfect-Element-Triologie, und schildert somit die Sicht des männlichen Individuum, in Teil I vorgestellt und personalisiert durch ein schlichtes 'He', auf die Welt und deren Verkommen durch Kommerzialität und Oberflächlichkeit, sondern erklärt durch die Augen dieses Individuums auch Gildenlöws eigene Sicht auf heutige Geschehnisse. Somit arbeiten sämtliche Texte von Scarsick zweischichtig.
Im Titelsong drückt uns Gildenlöw gleich ins Gesicht, was er von vielen Dingen heute hält. Der Protagonist, stellvertretend für die Menschheit, will ändern, kann aber nicht, da er die Situation selbst zu verantworten hat. Doch sie macht ihn krank ('Sick!') und er ist damit nicht allein. Das spezialisiert er bereits im darauffolgenden Spitfall, und zwar auf die Hip-Hop Szene. Es ist weithin bekannt, dass sich zahlreiche 'Musiker' brüsten, sich selbst im Alleingang vom Wohnanhänger ala 8Mile bis zum Star gekämpft haben. Gildenlöw nimmt genau diese Witzfiguren mit ihren eigenen Mitteln aufs Korn. Schneller Sprachgesang, Rap, Schimpfwörter aller Art, bevor man in einen PoS-typischen Refrain übergeht, der es auf den Punkt bringt: Es gab weder eine ach so harte Kindheit, noch diesen ach so harten Weg. Alles Lügen.
Musikalisch gehen PoS bereits bei diesen Songs besonders hart ans Werk. Sogenannter Prog Metal ist das vielleicht nicht, aber die bratenden Gitarren und schleppenden Grooves findet man hier mehr denn je. Als Kontrast findet sich danach gleich die Ballade Cribcaged mit Gitarre und Piano im Intro, bevor Sangesgott Gildenlöw anfängt zu singen. Und er singt über Kinder, die lernen, was ihnen ihre Eltern vormachen, und er singt erneut über Prominente, die sich im Ruhm sonnen. Und er singt wieder direkt zu den Betroffenen, noch direkter, mit besonderer Betonung des F-Wortes. Allein der Songname spricht Bände: Wie sollen (sich) nachfolgende Generationen ändern, wenn sie es bereits in der Krippe (crib-) eingetrichtert bekommen und sich davon überhaupt nicht abwenden können (-caged)? Sollten wir nicht vielleicht dafür sorgen, dass unsere Kinder nicht die gleichen Fehler machen wie wir?
Im nächsten Song America veräppelt Gildenlöw nicht nur textlich, sondern auch musikalisch. Scheinbar, scheinbar (!) heiter und simpel ist der Song, wie Songs amerikanischer sogenannter Nu-Metal Bands. Dazu kommt die Melodie der Westsidestory. Textlich kritisiert er im Prinzip alles erdenkliche, was in dieser Zeit in den USA vorging, speziell in politischer Hinsicht. Da ich mit diesem Thema aber nicht so bewandert bin, lasse ich mich darüber auch nicht allzusehr aus.
Textlich und musikalisch am genialsten ist allerdings Disco Queen. 8 Minuten lang spielen PoS eine Mini-Oper, eine kongeniale Verbindung aus 80er-Jahre-Plastik-Disco-Mucke mit zweitgemäßen Metal-Riffs. Das Paradoxe ist, dass die Kombination hervorragend passt, als ob die beiden Komponenten unzertrennlich wären. Textlich erklärt Gildenlöw den Thrill des erstmaligen Genusses einer neuen (Pop-)Platte. Sieht man aber hinter diese oberflächliche Barrikade, erkennt man ein zweites Konzept. Nämlich eine ziemlich freche und direkte Schilderung von schmutzigem, lieblosem Sex. Auf den ersten Blick will man nichts anderes als den Kick, doch danach ist man immernoch unbefriedigt, auf der Suche nach mehr, nach neuem. Diesen Text sollte man sich wirklich genauer ansehen, es ist erschreckend, wie Gildenlöw Parallelen zwischen zwei völlig unabhängigen Dingen herstellt und einige zunächst harmlos wirkende Textzeilen aus einem anderen Standpunkt betrachtet einen zweiten absolut unsäglichen Sinn ergeben. Grandios!
Eindeutiger hingegen ist die folgende Ballade King Of Loss. Sehr offen wird kritisiert, dass alles käuflich ist, dass man heute für alles blecht. Schlussendlich wird auch der Mensch zum kaufbaren Gegenstand und fällt dabei über sein sich selbst gestelltes Bein. Und wem das nicht passt, kann das öffentlich in einem Spot anmerken. Gegen Knete, natürlich. An dieser Stelle sei mir die Bemerkung erlaubt: Lieber Daniel, Du hast mit alledem ja so was von Recht, wirklich, absolut Recht!
In Mrs. Mondern Mother Macy treibt es Gildenlöw textlich eindeutig auf die Spitze. Religion wird kommerzialisiert und in der Glotze verkauft! Fällt noch jemandem das 'Mrs.' im Songnamen auf? Manche scheinen der Religion die sie selbst predigen, nicht mehr zu glauben. Denkt man sich hinter die Metaphorik der Texte, erkennt man, wie Recht Gildenlöw doch hat. Erschreckend, aber leider wahr. Doch-
CUT. Idiocracy. Idiotismus. Verrücktheit.
Es ist Zeit, alledem zu trotzen, NEIN zu sagen, die Augen aufzumachen. Doch vielleicht ist es bereits zu spät, vielleicht haben wir und schon alle viel zu sehr an dieses Leben gewöhnt? Vielleicht wollen wir uns gar nicht von diesem Materialismus trennen? Aber wieso können wir die Augen nicht schließen? Weil wir zwangsläufig sehen, was uns vorgemacht wird. Und dann kommt die Einsicht, die Flamme, die uns erleuchtet. Gildenlöw bittet, NEIN zu sagen.
Doch noch ist nicht alles zu spät, denn es wird der Regen kommen, der all dies wegschwemmt. Das düstere, einfache, aber extrem gefühlvolle Finale Enter Rain schildert uns, dass es noch Hoffnung zur Einsicht gibt. Nicht nur textlich, sondern auch musikalisch findet Gildenlöw mit diesem düsteren Song einen großen Abschluss einer musikalisch vielleicht bodenständigen und zurückhaltenden, textlich jedoch extrem aufrufenden und appellierenden Platte.

Von Geschichten über Missbrauch, Drogen und Kindheitsschwierigkeiten findet Gildenlöw seinen Weg hin zu übelster Gesellschaftskritik, ohne seine Wurzeln, die ersten Komponenten, zu verleugnen. Das gilt auch für die Musik. Scarsick ist düster, macht trotzdem Spaß und gibt dem Hörer die Möglichkeit, sich, veranlagt durch die perfekte Abstimmung von Musik und Text, mit den Problemen zu beschäftigen, die Gildenlöw versucht, einem vor Augen zu halten.
 
 

Bewertung: 

 

Vergleichbar mit: 

Ich finde viele amerikanische Einflüsse, auch von Nu-Metal und Hip Hop. Disco Queen spricht für sich selbst.

 
 
 
 
 

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