Steve Hackett - Out Of The Tunnel's Mouth (2009)

02.09.2015 17:22

Veröffentlichung: 2009

Genre/ Stil: Retro-Progressive Rock, Hard Rock, Weltmusik, Art Pop

 

Besetzung:

Steve Hackett - Gitarre, Gesang

Nick Beggs - Bass, Chapman Stick

John Hackett - Flöte

Dick Driver - Kontrabass

Roger King - Keyboard

Amanda Lehmann - Gesang

Lauren King - Gesang

Jo Lehmann - Gesang

Anthony Phillips - Gitarre

Ferenc Kovacs - Violine

Chris Squire - Bass

Christine Townsend - Violine, Viola

Rob Townsend - Saxofon

 

Titelliste:

1. Fire On The Moon

2. Nomads

3. Emerald & Ash

4. Tubehead

5. Sleepers

6. Ghost In The Glass

7. Still Waters

8. Last Train To Istambul

 
 

Was für ein gravierender Fehler von Michael Rutherford es war, anno ’77 zu glauben, er könne einen Gitarristen wie Steve Hackett lückenlos ersetzen. Es gibt ja Bands, die weitgehend ohne E-Gitarre zurecht kommen, wie ELP oder VdGG; Genesis gehört nicht dazu. Hackett hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Musik von Genesis gehabt, war wohl für einen gewissen Tiefgang zuständig und ist natürlich einfach ein extrem guter Gitarrist. Den Beweis dafür liefert And Then There Were Three, und einen weiteren Beleg findet man auch mit Out Of The Tunnel’s Mouth. Wenn man sich diverse Genesis Alben nach 1977, sowie Rutherfords Soloexkurse und Nebenprojekte (wie etwa Mike und seine Mechaniker) anhört, dann Hackett’s 2009er Output einlegt und bereits im ersten Song ein Solo geliefert bekommt, wie es nur von Mr. Firth Of Fifth (wie ich es an anderer Stelle gelesen habe) kommen kann, weiß man, was Genesis nach Wind & Wuthering gefehlt hat. Ein fähiger Gitarrist! Und zwar kein Frickelstuermer, sondern jemand mit viel Geschmack und Gefühl für Sound und Timing. Dass Hackett diese Eigenschaften besitzt, hat er uns schon genug gezeigt, und er zeigt es uns auch hier wieder.

Ich bin mittlerweile bei Out Of The Tunnel’s Mouth angelangt, nachdem ich mich mit seinem aktuellen Output Wolflight intensiv beschäftigt habe und dessen Vorgänger Beyond The Shrouded Horizon sich noch auf dem Weg mit der Post befindet. Und hat man sich einmal in den Stil reingehört, den Hackett um die Jahrtausendwende für sich gefunden zu haben schien, fällt es einem auch nicht schwer, seine Eigenheiten anzuerkennen. Dazu zähle ich die sehr volle, mit viieel Hall belegte Produktion, den gewöhnungsbedürftigen Gesang und den Hang dazu, sich mal auf gefährlichen Bahnen zu bewegen, was Experimente mit anderen Stilrichtungen angeht.

Tatsächlich findet man auch auf diesem Album wieder alles von triumphierenden Hymnen, Flamencoanklängen, lupenreinem Retro-Prog und dezenten Balladen bis hin zu fernöstlich angehauchten Klängen und vereinzelten Musicaleinlagen. Und merkte ich in meiner Wolflight-Rezension noch positiv an, dass der Bluesexkurs dort auf ein, zwei Passagen beschränkt wird, so muss sich der geneigte Prog-Fan auf Out Of The Tunnel’s Mouth gegen Ende leider durch viereinhalb Minuten Gospelblues kämpfen, den man sich möglicherweise hätte sparen können.

 

Wie dem auch sei, das Album beginnt absolut stark, mit vielleicht dem besten Song des Albums, dieser hält aber für mich Konkurrenz mit Nomads und Sleepers. Man hört, wie eine Spieluhr aufgezogen wird, und diese dann auch ihr Melodiechen spielt. Das Motiv ist recht traurig, etwas einsam. Hackett gesellt sich auch gleich mit Akustikgitarre und Gesang dazu. Ein gelungener Einstieg. Von der Struktur und der Idee erinnert mich dieser Song an Love Song To A Vampire von Wolflight: Das Lied wechselt ständig zwischen ruhigen Strophen und hymnischem, textlosem Refrain, der wegen der im Chor vorgetragenen „Ooohh“s auch nicht hier nicht selten an die frühen King Crimson erinnern. Darunter spielt ein getriggertes und mit viel Hall belegtes Schlagzeug einen schweren Groove und ein Chris Squire artiger Bass eine Art Bolero Rhythmus. Das erste Gitarrensolo lässt einen gleich schaudern; der Mann hat wahrlich Ahnung, wie man auf der elektrischen Gitarre einen Ton formt. Und da Steve weiß, was seine Fans hören wollen, beschert er uns am Ende gleich noch ein Solo dieses Kalibers. Ein fantastischer Opener, der eigentlich kaum noch zu toppen ist.

Denkste. Nomads geht gleich mal in eine ganz andere Richtung. Zu Beginn hört man Steve’s wie immer beeindruckende Tremolo Technik, sowie schnelle Läufe und Arpeggios auf der Nylongitarre. Die Stimmung bewegt sich irgendwo zwischen romantisch und spanisch. Etwas Percussion gesellt sich dazu und wir befinden uns irgendwo in der Toskana vor eine Finke, allein mit einer Gitarre und starrt in die Ferne. Das hält aber nicht lange an, denn kurz darauf hört man Kanstanietten und Klatschen und sieht Flamencotänzer vor sich. Fehlt eigentlich nur noch ein betrunkener Mexikaner, der auf jede Viertel „hey, hey, hey!“ brüllt. Es folgt einer von Steve’s berühmten Ringslides und das Schlagzeug, Cemben (wenn ich das richtig höre) und ein Gitarrensolo setzen ein. Am Ende gibt es noch eine ganz kurze Reprise des anfänglichen Refrains. Es ist wahrhaftig beeindruckend, was man in viereinhalb Minuten alles reinpacken kann. Ein weiterer grandioser Song. 

Emerald & Ash beginnt mit Klangflächen und einem sehr schönen Sopransaxofon, bevor es sich in eine dezent instrumentierte Ballade verwandelt. Auch hier spüre ich wieder eine gewisse Einsamkeit. Der Refrain ist poppig, beinahe etwas arg poppig und ja, das ist ein bisschen kitschig, aber bei weitem nicht geschmacklos. Dieser erste Teil des Liedes wird zudem immer wieder durch das Einschieben unbehaglichen Klangflächen ins Unkonventionelle gekippt. Ab 5 Minuten erfährt der Song eine vollkommene Wendung. Das Schlagzeug stampft, die Gitarre schreit, die Stimmung wird unangenehm - stark. Am Ende hören die Melodie vom Anfang noch einmal, was den Zyklus wieder schließt und die beiden sehr unterschiedlichen Teile nicht auseinander fallen lässt. Ein weiterer sehr gelungener Song.

Was nun folgt, ist ein rasantes Instrumentalstück namens Tubehead, bei dessen Beginn ich mich immer wieder frage, wie man solche Klänge aus einer Gitarre rausholt. Der Bass grummelt und groovt ungemein, das Schlagzeug könnte wie üblich für meinen Geschmack etwas natürlicher klingen. Die Gitarre soliert, rifft, schneidet. Erst um die Hälfte herum findet der Song zu einer Melodie, ansonsten gibt es hier keine Sekunde Ruhe. Extrem cool finde ich die sehr speziellen Keyboardsounds gegen Ende hin. Hier geht’s ab, es folgt eine Achterbahnfahrt auf die nächste; sprich, Steve zeigt, dass er noch lange nicht alt ist. Ich finde, dass Tubehead ebenfalls ein sehr passender Opener in das Album gewesen wäre.

Mit Sleepers folgt wie gesagt ein weiterer Kracher. Der Anfang ist ruhig, traurig, atmosphärisch, mit Streichern und einer Akustikgitarre. Die vorgestellte Melodie ist schlicht wunderschön, und zwar so schön, dass ich sie mir auch gern 10 Minuten lang in Dauerschleife anhören könnte. Hier wird sich Zeit gelassen, Stimmungen auf- und abzubauen, Umbrüche vorzubereiten. Das Ambiente schwankt von traurig zu skurril, und wieder zu einsam. Steve spielt geschickt mit Flageolett-Tönen und die Begleitung durch tiefe Arpeggien und verhaltenem Schlagzeug ist extrem geschmackvoll, genau wie auch die vorgestellten Themen. Die Anfangsmelodie wird immer wieder aufgegriffen und als Kommentar in Strophen verwendet. Das ist kompositorische Superklasse. Ähnlich wie bei Emerald & Ash ändert der Song sein Gesicht um die 5 Minuten Marke komplett. Es setzt ein schleppendes, leicht gebrochenes Schlagzeug ein und die Melodik wird leicht bluesig. Dieser dezente Blueseinfluss hätte mir durchaus gereicht, denn derartig eingesetzt bildet er genau, was er soll: eine Abwechslung bringende Farbe. Es folgt ein sehr geiler Instrumentalteil mit Synchronläufen und filmmusikalischen Einwürfen (die übrigens auf diesem Album lange nicht so ausgeprägt sind wie auf Wolflight). Bemerkenswert ist, dass der Song beinahe 6 von seinen 9 Minuten braucht, um so richtig Fahrt aufzunehmen, und das ohne langweilig zu werden. Das muss man können. Am Ende wird natürlich das Anfangsthema noch einmal aufgegriffen. Ein wahrhaft großer Song.

Mit den letzten drei Songs folgt dann der experimentellere Part des Albums, in meinen Augen aber auch der schwächere. Ghost In The Glass ist wie eine Einleitung in die (um einiges kürzere) zwei Seite der Schallplatte und deckt zumindest im ersten Teil den obligatorischen Akustikgitarrenexkurs ab, den man auf beinahe allen Alben von Steve Hackett findet. Es wird allerdings nicht sehr klassisch, es ist nicht mal ein Solostück, wird Steve doch von einem ruhigen Rhodes begleitet. Im Hintergrund hört man Vogelgezwitscher. Die Harmonik ist hochinteressant und wäre wohl eine genau Analyse durchaus wert. Nach einer Minute setzen aber Besen und Streicher, so wie ein Fretlessbass ein und ein elegisches Gitarrensolo beginnt. Die Stimmung ist enorm cool, sowie leicht dramatisch und die Moll-maj7 Akkord der Streicher erinnern mich persönlich nicht selten einerseits an Sting, andererseits an einen James Bond Soundtrack. Steves etwas spitze Gitarre bewegt sich irgendwo zwischen schneidend und schwebend. Das anfängliche Vogelgezwitscher beendet dann das zweite Instrumental des Albums.

Und sofort setzt der einzige Song des Albums ein, den man sich wirklich hätte sparen können, Still Waters. Der langsam schleppende Shuffle geht einfach nicht konform mit den überproduzierten Drums und wirkt so einfach nicht authentisch. Hacketts Stimme ist für den Blues nicht gemacht; dasselbe gilt auch für seine Gitarre. Des weiteren sind die Gospelstimmen einfach nicht (pardon) schwarz genug, sondern zu brav und blutleer. Da gefällt mir sogar Peter Gabriels Bluesausflug (PG I, alias Car, 1977) besser. Ne Steve, überlass das lieber Kollegen wie David Gilmour. Auf Wolflight gibt es einen solchen Bluestitel glücklicherweise nicht, und ich hoffe, auf Beyond The Shrouded Horizon auch nicht.

Denn wenn schon Experimente in „andere“ Musikstile, dann wieder in südländische oder fernöstliche Gefilde. Letzteres präsentiert Hackett mit dem abschließenden Song, Last Train To Istambul. Wir haben unübliche Instrumente, wie eine Sitar, aber auch Streicherarrangements im stilechten phrygisch-dominanten und mixo-b13 Material. Diese Arrangements finde ich extrem gelungen. Und zack, schon wirkt das. Ich will nicht sagen, Steve sei nicht cool genug für Blues, aber Elegie, Melodie und Flächen stehen ihm einfach besser. Auch das Schlagzeug gleicht eher Perkussion. Selbst Steves glatte Stimme stört nicht. Ich fühle mich hier und da an ähnliche Experimente von George Harrison erinnert. Hackett’s Gitarre klingt an machen Stellen nichtmal nach einer Gitarre, sondern nach irgendeinem schlangenbeschwörenden Blasinstrument.

 

Damit wird Out Of The Tunnel’s Mouth so unkonventionell wie nur möglich beendet. Ich persönlich hätte mir für die Songs eine etwas andere Reihenfolge gewünscht. Tubehead wäre für mich der perfekte Opener gewesen. Last Train To Istambul hätte ich als Experiment irgendwo in die Mitte geschoben, während ein progressiver Kracher a la Sleepers oder eine triumphale Hymne wie Fire On The Moon für mich ein noch besser Abschluss gewesen wäre. Aber ich meckere auf hohem Niveau, denn die Qualität der Musik wird dadurch ja trotzdem nicht beeinflusst. Allerdings wird Out Of The Tunnel’s Mouth genau wie Wolflight gegen Ende hin etwas schwächer, wohingegen die ersten 5 Songs allesamt überzeugen können. Die Produktion ist wie bei Steve üblich ein wenig künstlich, mit viel Hall und Effekten, sowie einem getriggerten Schlagzeug. Wie gesagt, man gewöhnt sich dran, mir persönlich wäre aber ein rein natürliches Schlagzeug wie das von Nick D’Virgilio noch etwas lieber.

Insgesamt ist Out Of The Tunnel’s Mouth natürlich ein sehr gutes Album, das mit mit einer Bandbreite von Prog-Krachern (Sleepers), fernöstlich anmutenden Songs (Last Train), lateinamerikanisch/ spanisch klingenden Passagen (Nomads), rasanten und elegischen Instrumentalstücken (Tubehead und Ghost In The Glass), sowie bombastischen Gänsehauterzeugern (Fire On The Moon) überzeugen kann. Am Ende gefällt mir Wolflight doch noch ein wenig besser, da Steve dort die Musikstile noch homogener miteinander verbunden konnte und mich die Texte stellenweise etwas mehr berühren. Trotzdem: Mr. Firth Of Fifth, der Meister der langen Töne, das einzige Mitglied der Genesis Familie, das den Progressive Rock, wie er im Buche steht, noch ausgiebig praktiziert, enttäuscht auch mit diesem Album nicht.

 

Bewertung:

Wie gesagt, Wolflight überzeugt mich noch ein ganzes Stück mehr.

 

Vergleichbar mit:

An einzelnen Stellen Crimso, George Harrison, im wesentlichen aber sich selbst.

 
 
 
 
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Kommentare

Hört sich interessant an :)

DarkProgSequenzer9797 Experimental Edition 05.09.2015
Das ist eines von seinen Alben, die ich noch nicht habe. Stilistisch scheint das noch vielfältiger als ,,Wolflight´´ zu sein. Ich werde danach Ausschau halten :)
Mit dem armen Rutherford gehst du mir etwas zu hart ins Gericht. Natürlich kann er Hackett nicht vollwertig ersetzen, aber das weiß er sicherlich auch selber. Vermutlich war das auch eher eine Notlösung, weil sich kein anderer Gitarrist fand. Bei dir klingt das so, als ob Rutherford gar nicht Gitarre spielen könnte. Das kann er, nur nicht so gut wie Kollege Hackett. :) Er ist als Gitarrist einfach Weltklasse, Rutherford dagegen nur oberes Mittalmaß.

Antw.:Hört sich interessant an :)

Fritz 09.09.2015
Es war nicht so, dass sich kein anderer Gitarrist fand, sondern eine bewusste Entscheidung von Rutherford, die Gitarrenparts auf den Studioalben selbst zu übernehmen. Für die Liveparts hatte man mit Stuermer ja auch einen neuen Gitarristen gefunden, der genau so gut auch vollwertig mit einsteigen hätte können (auch wenn ich ihn persönlich nicht so sehr mag). Rutherford mag ein ordentlicher Rhythmusgitarrist sein, dafür hat er meiner Ansicht nach kein Näschen für einen guten Gitarrensound. Seine Gitarre klingt immer irgendwie gesichtslos. Nicht zu bestreiten ist doch aber, dass nach Hacketts Ausstieg ein wichtiger Teil im Genesis-Soundkosmos fehlte, den man besser hätte ersetzen können, oder? Was Hackett aus Bruning Rope rausgeholt hätte, wüsste ich gern ;)
Zu Out Of The Tunnels Mouth: Insgesamt gefällt mir wie gesagt Wolflight besser, da dort die verschiedenen Stile etwas besser verschmolzen wurden! ;) Aber mit Fire On The Moon, Nomads und Sleepers hast du hier drei absolut geile Songs.

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