Steven Wilson - Hand. Cannot. Erase.

08.03.2015 14:45

 

Veröffentlichung: 27. Februar 2015

Stil/ Genre: Retro-Progressive Rock, Electronic Rock, Alternative, New Artrock, Art Pop

 

Besetzung:

Steven Wilson - Gesang, Mellotron, Keyboards, Gitarre, Bass, Banjo, Hackbrett (?), Programming, Percussion

Guthrie Govan - Gitarre

Nick Beggs - Bass, Chapman Stick, Backing Vocals

Adam Holzman - Klavier, Hammond, Celesta, Wurlitzer, Moog, Fender Rhodes

Marco Minnemann - Drums

Dave Gregory - Gitarre

Chad Wackerman - Drums

Ninet Tayeb - Gesang

Theo Travis - Querflöte, Baritonsax

Katherine Jenkins - Gesprochener Kram

Schola Cantorum Of The Cardinal Vaughan Memorial School - Chor

London Session Orchestra

 

Titelliste:

1. First Regret

2. 3 Years Older

3. Hand. Cannot. Erase.

4. Perfect Life

5. Routine

6. Home Invasion

7. Regret #9

8. Transcience

9. Ancestral

10. Happy Returns

11. Ascendant Here On...

 
 
(Es sei jedem Vorsicht geboten, der dieses Album unvoreingenommen und ohne Vorahnung zum ersten mal hören will. Also: Spoiler Alert.)

 

Steven Wilson. Mr. Porcupine Tree. Sozusagen das Stachelschwein unter den Progressive Rock Musikern. Er ist nicht so nett wie ein Morse, nicht so extrovertiert wie ein Gildenlöw.. er ist ruhig, aber er hat Borsten. Seine Musik ist nicht unbedingt immer lebensbejahend. Verdammt, nach einem Durchlauf von Fear Of A Blank Planet sucht man erstmal eine Weile nach den schönen Dingen des Lebens. Der Titeltrack seines letzten Albums war so traurig, dass es schon fast wehtat.

Ich erinnere mich, Steven Wilson mal als jemanden bezeichnet zu haben, der das wenige, was er kann, gut verkaufen kann. Von dieser Meinung muss ich mich entschieden distanzieren. Heute ist Wilson für mich jemand, der viel kann (und das viele auch gut vermarkten kann), der aber die richtigen Leute hinter sich stehen haben muss um das, was er gut kann, auch gut zu verwirklichen zu können. Diese Meinung hat sich bei mir nach der Veröffentlichung von Grace For Drowning eingestellt, mit The Raven bestätigt und mit dem vorliegenden Hand. Cannot. Erase. ist es nun in Stein gemeißelt. Und obwohl mich das in einem schlechten Licht dastehen lässt, und man mir jetzt eine Menge Vorwürfe machen kann, was Vorurteile angeht, ziehe ich mittlerweile meinen Hut vor Mr. Wilson. 

Aus Porcupine Tree war die Luft raus. Das muss er selbst gemerkt haben. Seit 2009 ist das Projekt stillgelegt. Und das finde ich ehrlich gesagt gut. Gerade The Incident war für mich ein schwaches Werk und ein Zeichen dafür, dass etwas frischer Wind in die Segel muss. Grace war daraufhin ein monströses Projekt, welches Wilson mit einer großen Horde ungemein talentierter Musiker und anderthalb Jahre Studiozeit (!) verwirklicht hat (ich wiederhole mich gern: Rudess, Levin, Mastelotto, Hackett, Travis, Gunn; wenn das keine Liste renommierter Musiker ist.. das erinnert mich irgendwie alles an Steely Dan). The Raven war in seiner Gesamtheit kompakter, mit einer „Band“ im ursprünglichen Sinne eingespielt, und in sich einfach geschlossener. Und diese Band kann sich sehen lassen! Nick Beggs am Bass, Guthrie Govan an der Gitarre, Marco Minnemann am Schlagzeug- Wenn bereits diese Rhythmusgruppe keinen frischen Wind in die Segel pustet, wer dann?

Nach dem ausgezeichneten Raven-Album war ich auf Wilsons neue Veröffentlichung gespannter denn je. The Raven war düster, jazzig, ein bisschen verstörend, durch und durch retro und auf eine geniale Art und Weise spontan (Luminol ist hierfür vielleicht das beste Beispiel). In welche Richtung würde Wilson danach gehen?

 

Hand. Cannot. Erase. ist abermals anders geworden. Was geblieben ist, sind die starken Retro-Einflüsse, hier und da klingt es immer noch nach King Crimson (Ancestral), die typischen Melodien sind immer noch da, genau wie auch die vielstimmigen Vokalsätze und die melancholische, beinahe depressive Stimmung. Ich glaube allerdings dieses mal (wieder) etwas mehr Einflüsse aus der Alternative-Richtung herauszuhören. Mit dem Titeltrack findet sich dieses mal auch wieder ein beinahe stubenreiner Popsong (von ein paar rhythmischen Finessen abgesehen); auf dem Vorgänger suchte man nach sowas vergebens. Weiterhin sind die Songs bezeichnenderweise auch wieder etwas kürzer ausgefallen. Das Album beinhaltet fast doppelt so viele Song wie der Rabe und ist nur ca. 10 Minuten länger (obwohl das auch nur die halbe Wahrheit ist, da einige Songs ineinander übergehen oder gar zusammengehören). Die Platte klingt meiner Meinung nach generell etwas moderner, eben poppig-alternativer, während die letzten beiden Alben Retro-Prog in Reinkultur boten. Auch die Drummachine aus Porcupine Tree Zeiten ist wieder da. Dazu bleibt zu sagen, dass wir uns trotz dieser Unterschiede über den Wilson-Dunstkreis musikalischer Variierung unterhalten, also braucht niemand Angst zu haben, hier ein Alternative- oder gar Popalbum vor sich zu haben.

 

Hand. Cannot. Erase. beginnt im Prinzip wie ein Pink Floyd Album: Die ersten 10 Sekunden überprüft man noch mal, ob die Boxen auch an sind. Kinderstimmen, ein tiefer Cluster, der immer lauter wird und sich schließlich in eine Piano-Melodie auflöst - die allerdings Wilson-typischer nicht sein könnte. Ich finde es immer wieder schön, sozusagen in ein Haus zu kommen und sofort zu wissen wer hier wohnt. Eine Drummachine gesellt sich dazu, es wird atmosphärischer, man denkt, es kommen gleich 40-stimmige Lalala-Satzgesänge (Vgl. Grace For Drowning, der Song), aber nein, bevor man sich versieht, übernimmt ein Mellotron und man befindet sich in Song Nummer zwei. First Regret ist ein gelungener Einstieg, irgendwie typisch, alles bekannt, und doch nach wie vor effektvoll. Und typisch geht es weiter. 3 Years Old wirft dem Hörer erstmal ein Schrammelakustikgitarrenlick um die Ohren, sodass man ganz kurz die Luft anhält. Sobald dann aber die Band einsetzt, atmet man beruhigt aus: Die Band groovt wie die Hölle, alles klingt genauso wie es klingen soll, und das eigentlich simpel-poppige Riff klingt auf einmal gar nicht mehr simpel-poppig, sondern busy, treibend und vertrackt. Der Bass knarzt und die Drums klingen so wie sie auf der letzten Dream Theater hätten klingen müssen. Darüber hinaus ist das Riff, was hier ertönt, neben aller anfangs erwarteten Einfachheit, ziemlich interessant: Wir befinden uns technisch gesehen in einem normalen 4/4 Takt, doch wird einem vorgegaukelt, man höre einen 7/8 und einen 9/8 (was zusammengerechnet ja wieder zwei 4/4 ergäbe). Denkt man im 4/4, so werden die Viertel der Gitarre im zweiten Takt sozusagen zu Synkopen. Das lässt einen (mich) kurz denken, man höre einen Genesis-typischen 7/8 (Vgl. Cinema Show). Die gebrochen gespielten Drums von Marco Minnemann unterstützen das. Das Riff klingt trotz der poppigen Sus4-Harmonik typisch retroprogressiv, irgendwie nach Rush, hier und da auch mal Yes, und strotzt nur so vor Energie. 

Die Strophe und der erste Refrain sind dann herrlich melodisch und erinnern an die ruhigen Stellen von Grace For Drowning. An dieser Stelle bemerkt man auch das erste mal, mit welcher Dynamik das Album produziert ist. Hier gibt es Parts, an denen man geneigt ist, die Box etwas lauter zu drehen, damit man alles gut hört. Doch wenn das Album zum ersten mal durchläuft, würde ich davon abraten, denn kurz nach dem zweiten Refrain setzt urplötzlich die Band wieder ein und pustet einen aus den Socken. Solche Momente hab ich auf der letzten Dream Theater Platte vermisst. Es folgen mehrere gelungene Durchführungen des Refrains von der ganzen Band, ein Klaviersolo, einige Bridges und aufgedrehte Orgel- und Gitarrensoli. Letztere sind repräsentative Stellen, an denen mir immer wieder einfällt, wie sehr ich Progressive Rock liebe. Klingt pathetisch, ist es vielleicht auch.. Aber so ist es einfach ;)

 

Der Titeltrack ist daraufhin wie gesagt ein Song aus der eher poporientierten Richtung, was bei Steven Wilson (mittlerweile) nichts schlimmes heißen muss. Denn der Song ist wirklich sehr gut, wartet mit einigen rhythmischen Kniffen und wunderschönen Melodien auf und ist dazu (natürlich) unheimlich gut gespielt. Den Schlagzeugeinsatz muss man einfach lieben. Minnemanns transparenter Sound und sein lockerer Stil stehen dem Song sehr gut zu Gesicht. Interessanterweise klingen vereinzelte Gitarrenparts vom Sound her mal nach Yes (2:20) und von ihrem Ostinatocharakter und der vielschichtigen Art und Weise mal nach King Crimson. Und das bei einem Popsong, alle Achtung.

Wie auch immer, der Song kursiert ja schon einige Zeit im Internet (wie wohl mittlerweile auch der Rest des Albums) und wird selbst den Hörern, die sich selbst nicht als Wilson-Die-Hard-Fans sehen, bekannt sein. Er hat weiterhin zu Unrecht zu einigen Diskussionen und Zweifel geführt, die sich mehr oder weniger darum gedreht haben, ob die neue Steven Wilson vielleicht viel zu poppig ausgefallen sein könnte. Dass solche Schlüsse von einem 4-Minutensong auf ein ganzes Album gezogen werden, finde ich etwas lächerlich, aber naja.

 

Verwundert hat mich dagegen die darauffolgenden Veröffentlichung der zweiten Single, Perfect Life. Denn wenn ein zweiter Song aus einem im Vorfeld mutmaßlichen (und im Endeffekt selbstverständlich auch als solches bestätigten) Progressive-Rock-Albums aus Promo-Gründen veröffentlicht wird, der wie bereits der erste kaum etwas mit Prog zu tun hat, kann ich gewisse Zweifel schon wieder nachvollziehen. Ich hab mir den Song bewusst vorher nicht angehört (beim ersten konnte ich nicht widerstehen), und es ist auch gut so, da ich mich sonst vielleicht auch dabei erwischt hätte, vor einem Alternative-Pop Album (wer weiß, was Steven dieses mal wieder reißt) Angst zu haben.

Perfect Life ist vielleicht der schwächste Song des Albums (was nicht viel heißen muss) und hat für mich aus zwei Gründen eine Daseinsberechtigung: 1. Eine Frau erzählt am Anfang des Songs alte Geschichten von sich und ihrer Schwester. Sie spricht und singt nicht (ob man das jetzt gutheißt, ist eine andere Frage). Damit ist der Song wohl essentiell für die Storyline des Albums. 2. Der Refrain, der dann in einer sehr repetitiven Art vorgetragen wird (auf deutsch gesagt, er kommt einfach 8 mal hintereinander), besitzt eine erschütternd schöne Melodie und Harmoniefolge, welche im späteren Verlauf des Albums noch einmal auftaucht. Ansonsten ist der Song instrumentiert durch eine Drummachine, die später von „echten“ Drums unterstützt wird, perlenden U2-Gitarrenostinatos (wenn ich’s mir Recht überlege, setzt Wilson solche Figuren viel öfter ein, als mir vorher aufgefallen ist) und viel, viel Fläche. Man hört außerdem einen starken Peter Gabriel Einfluss. Die Drumloops erinnern unweigerlich an den Meister, sowie auch die Falsettstimmen gegen Ende. Der Song ist durchaus schön, aber kein Meisterwerk und wirkt im Endeffekt nur im Kontext wirklich gut. Auch deswegen ist es vielleicht gut gewesen, dass ich ihn mir vorher nicht angehört habe.

 

Nach diesem kurzen Popexkurs folgt in den nächsten drei Songs wieder eine Prog Breitseite. Routine fängt trotzdem ruhig an, als würde eine weitere Ballade folgen. Der Großteil des Songs steht im 5/4 Takt. Dieses mal singt auch eine Dame, seltsamerweise nicht die selbe, die im vorhergehenden Song gesprochen hat. Sie hat keine Stimme wie Kate Bush oder Annie Haslam; ich würde sogar fast so weit gehen, sie als etwas blass zu bezeichnen, ohne das jetzt abwertend zu meinen (im Endeffekt kenne ich von ihr auch nur diese Aufnahme, wer weiß ob das nicht gar beabsichtigt ist). Denn diese Färbung passt optimal zu Steven Wilsons.. ähem.. moderaten Sangeskünsten. In vereinzelten Bridges darf eine Sopranstimme etwas zur Atmosphäre beitragen, sehr gelungen. Nach 3 Minuten scheint der erste ruhige Teil vorbei zu sein. Daraufhin brettert aber nicht gleich alles los, sondern es bleibt ruhig, es wird unbehaglich und steigert sich bedächtig. Sehr effektvoll sind dabei auch einige Ruhepunkte, in denen wirklich kein Mucks zu hören ist. Routine nimmt sich geschlagene 6 (von seinen 9) Minuten Zeit bis es richtig auf die Zwölf gibt. Wieder einer der Überraschungsmomente, die Wilson seit The Raven gern mal einbaut. Darauf darf Sängerin Ninet Tayeb den Himmel auf die Erde herabsingen und wird dabei unterstützt von der Band inklusive Mellotron. Nach dem kurzen aber verstörenden Klimax klingt Routine mit (Trommelwirbel) den Harmonien von Perfect Life ruhig aus. Wilson singt ein paar wahrlich berührende Zeilen mit Sängerin Ninet und einem Chor im Hintergrund. Wieso hat Steven solche Momente nie in einem Porcupine Tree Lied verarbeitet? Sowas ist doch großer Sport.

Die Idee, auf diesem Album eine Sängerin mitwirken zu lassen finde ich übrigens sehr gut. Aus zwei Gründen: 1. Logischerweise trägt das zu Story bei. Auf die Idee kam auch schon Nick D’Virgilio bei seiner Neueinspielung des Lamb-Opus. Die Lamien sind Schlangenfrauen, die einen verführen; wieso die Szenerie nicht noch realistischer darstellen, indem man einfach eine Frau singen lässt? Und 2. Gestehen wir es uns ein, Wilsons Stimme hat einen hohen Wiedererkennungswert und passt an manchen Stellen gut, aber.. er ist nicht der große Sänger und den Effekt eines großen musikalischen Momentes, der wie eine große Landschaft wirkt, braucht man nicht durch mittelmäßige Sangeskünste aufs Spiel setzen, wenn man es einfach mit der Stimme einer Dame verhindern kann.

 

An dieser Stelle folgt eine Reihe musikalischer Ideen, die in einer Art Mini-Songzyklus ziemlich linear aneinandergehängt wurden. Home Invasion und Regret #9 gehen unmittelbar ineinander über und wirken auch als ein zusammenhängender Song. Ersteres beginnt mit einem Progmetalriff, inklusive Doublebass und Stakkatogitarre. Damit wird einem das erste mal seit einer knappen Viertelstunde mal wieder richtig Feuer unterm Arsch gemacht. Mir kommen Gedanken an die Anfänge von Wedding Nails und Holy Drinker. Der herrliche Sound des Rhodes ist zum Niederknien und katapultiert einen in längst vergessen scheinende Zeiten. Die Band groovt und treibt eine Weile, während Gitarre und Keyboard im Hintergrund ein bisschen Fläche legen. Nach drei Minuten folgt abrupt ein Tempowechsel und bei Wilsons Gesangseinsatz muss ich sofort an gleich mehrere Deadwing-Songs, sowie Sleep Together (Fear Of A Blank Planet) denken. Der Halftime-Refrain mit den mehrstimmigen Satzgesängen hätte problemlos aus Russia On Ice Oder einem Song von In Absentia stammen können. Damit ist Home Invasion neben Transcience wohl der Song, der am ehesten nach Porcupine Tree klingt. Nunja, ich will hier nicht die ganze Zeit Porcupine Tree beschimpfen, denn ich muss sagen, dass mich die paar Anklänge absolut nicht stören. Außerdem kann ich kaum einen Song verurteilen, in dem der von mir so sehr geliebte Rhodes-Sound derart präsent ist. Auch der mit einem bestimmten Hall ausgestattete Gesang klingt so wunderbar retro, dass man völlig unabhängig von Komposition o.Ä. an Led Zeppelin zu denken beginnt. Und damit muss ich mal wieder eine Lanze für diese retrorock-gewandte Stilrichtung brechen. Ich stehe einfach ungemein auf solche Sounds.

Und mit „solchen“ Sounds geht es im nächsten Song weiter. Der Name Regret #9 hat mich anfangs, besonders in Verbindung mit dem Opener First Regret, an das White Album der Beatles erinnert. Da gibt es zwei Songs mit Namen Revolution 1 und Revolution 9. Wieso gerade 1 und 9? Ich glaube hier eigentlich kaum an einen Zufall; Wilson hat schonmal unschwer zu erkennende Beatles-Reminiszenzen in seine Songs eingebaut („I was born in 67, the year of Sgt. Pepper“, Time Flies). Wie dem auch sei, der Song selbst klingt kaum nach den Beatles, sondern viel eher nach Pink Floyd (was auch nicht das erste mal wäre, und wieder wären wir bei Time Flies). Regret #9 besteht im Prinzip „nur“ aus einem Keyboardsolo und einem Gitarrensolo. Der Groove und die Soli sind allerdings wesentlich virtuoser als bei Pink Floyd. Das Keyboardsolo entwickelt sich geschickt aus einem anfangs begleitenden Arpeggio. Das ganze verläuft klugerweise nicht die ganze Zeit über zwei immer wiederkehrende Harmonien und impliziert auch nicht, dass hier einfach ein Begleitband aufgenommen wurde, welches dann herumgeschickt wurde und über das der Solist seinen Kram spielt; es klingt in der Tat so, als hätte man hier als Band zusammengespielt. Nach einer gelungen Steigerung setzt dann Guthrie Govan mit seinem Solo ein. Hier scheint Wilson seine Finger im Spiel gehabt zu haben, denn Guthrie rastet nicht komplett aus und spielt eins seiner berühmt-berüchtigten Jazz-Frickelsoli, sondern bleibt sehr melodisch mit besonderem Augenmerk auf Sounds und gänsehauterzeugenden, langen Tönen. Was nicht bedeutet, dass er nicht hier und da auch mal zeigt, weswegen er zur Speerspitze der derzeitigen Gitarrenliga gehört. Beide Varianten hätten gut gepasst und mir hervorragend gefallen, denn so oder so hört man, was für Profis hier am Werk sind. Und jeder, der von Guthrie Govan mal die ein oder andere Aufnahme gehört hat, weiß, zu was dieser Mann fähig ist.

Der Minisongzyklus wird abgeschlossen durch eine Akustikballade, Transcience. Diesen Song kann man aber eher als die beiden vorherigen auch als eigenständiges Lied hören. Es ist eins der typischen kleinen Einschübchen, die Wilson so gern einbaut. In eine ähnliche Richtung gingen für mich zum Beispiel How Is Your Life Today? oder Track One. Gleichzeitig fühle ich mich an einige Momente aus In Absentia, sowie erneut den Mittelteil von Time Flies erinnert. Letzteres erlaubt wohl auch den Vergleich zu Pink Floyd. Eine gewisse Nähe kann man auch hier kaum abstreiten.

Wie auch immer, Transcience wirkt sowohl als Abschluss der Reihe Home Invasion - Regret#9, als auch als Ruhepunkt vor dem darauffolgenden, monströsen Ancestral. Also könnte man auch hier wieder sagen, dass es im Kontext wohl am besten wirkt.

 

Ancestral ist dann sozusagen das zentrale Meisterwerk des Albums, wie es auch Raider war. Nach  ungefähr 20 Hördurchläufen hat sich dieser Song auch als mein liebster des Albums herauskristallisiert. Er hat eine unglaubliche Atmosphäre; morbide, trübsinnig, düster, irgendwie monströs (besonders gegen Ende dann), beinahe deprimierend. Das finde ich an diesem Song sehr stark. Außerdem steigert er sich aus seiner anfangs fast unauffälligen Art im weiteren Verlauf in ein wildes Instrumentalinferno hinein und wird somit eigentlich immer spannender.

Der Anfang mit der minimalistischen aber vertrackten Drummachine erinnert an Porcupine Tree Zeiten. Schon hier ist die Atmosphäre einsam; später wird das verstärkt durch Orchesterflächen. Endlich hört man auch mal Theo Travis, der auf diesem Album für meinen Geschmack mehr gefeatured hätte werden können. Der Song nimmt erst nach dreieinhalb Minuten Fahrt auf, als urplötzlich die Band einsetzt. Ein äußerst gelungener Moment. Die Backgroundgesänge klingen fast wie ein Choral aus einem Ritual. Wilson singt „Come back if you want to“, doch die Art und Weise, wie er es singt, impliziert, dass das „if you want to“ gar nicht wirklich gemeint ist. Nach einem langen „come baaaaaack“ folgt dann der große Moment des Albums, auf den alle Gitarristen gehofft und gewartet haben: Guthrie Govan’s großes, weites Gitarrensolo. Wie er die Töne anschneidet und formt, erinnert gerade während der längeren und wimmernden Töne nicht selten an Steve Morse. Govan nimmt sich abermals zurück und setzt auf Gänsehautmomente, obwohl hier und da mal ein schneller Lauf drin ist. Es ist wohl fast überflüssig zu sagen, dass Guthrie einen exzellenten Moment schafft, denn dieses Solo ist der absolute Hammer.

Kurz darauf beginnt der Song in eine andere Richtung zu gehen. Er sackt zusammen und richtet sich ganz anders wieder auf. Die traurige Melodik der vergangenen 5 Minuten ist Geschichte und wird ersetzt durch unbehagliche King Crimson Gitarren (obwohl Herr Fripp an dieser Stelle statt Arpeggien wohl vielschichtige Wechselschlagläufe eingebaut hätte). Die Drummachine kommt in diesem Song auch nicht noch einmal; stattdessen spielt Marco Minnemann alles an die Wand. Und damit gehören die verbliebenen 8 Minuten des Songs dem bereits angesprochenen Instrumentalinferno. Hier und da wird die Spannungskurve nochmal runtergefahren, aber jeder, der in seinem Leben schonmal King Crimsons Lizard gehört hat, weiß, dass nach einem ruhigen, unbehaglichen Teil wie beispielsweise denen um die 8 oder 10 Minuten Marke nichts melodisches folgt. Hierauf wird alles reingehauen, was man hat, das Tempo wird organisch nach und nach angezogen, es gibt einfach richtig auf die Fresse. Dabei kommt auch hier wieder der ein oder andere Gedanke an King Crimson auf. An solchen Stellen bemerkt man, welches Kaliber einer Band Wilson hinter sich hat. Das Rhodes hat seinen letzten Auftritt des Albums, die Steigerung wird irgendwann fast unerträglich (kurz vor Schluss ist eine Stelle, die mich an den Klimax von Dream Theaters Outcry erinnert), bevor alles auf einmal abgebrochen wird und der Song mit unbekümmerten Gitarrenarpeggios beendet wird. Kein weiterer Gesang, keine Reprise, man wird einfach so stehen gelassen und checkt erstmal garnicht, wie das alles grade eben so ausrasten konnte. 

Ancestral gehört (für mich) zweifelsohne zum Besten, was Steven Wilson bisher verbrochen hat. Das sagt auch mein iTunes-Zähler; ich hab den Song in einer Woche über 60 mal gehört, ungefähr doppelt so oft wie den Rest des Albums.

 

Nach diesem leicht verstörenden (dennoch grandiosen) Stück Musik wird man aber aus dem Bann des Albums trotzdem versöhnlich zurück in die Welt geschickt. Happy Returns ist eine typische Ballade mit Dudulaldumla-Gesang, die herrlich fließt und trotz seiner Einfachheit die melancholische Atmosphäre des Albums beibehält. Am Anfang wird die Melodie, welche das Album eingeleitet hatte, noch einmal aufgegriffen. Wilson zeigt hier mal wieder sein Talent für schöne ruhige Momente, die nicht unbedingt komplex sein müssen. Viele haben den eben genannten Gesang kritisiert, aber der gehört mittlerweile zu Wilsons Musik wie die Deja-Vu Momente zu Neal Morses Musik.

Der letzte Track Ascendant Here On schließt sich dann direkt an und wirkt sowohl als Ausklang für das Album als auch für den Song. Die ersten zwei Sekunden denkt man, es ist die Simpsons-Titelmusik; der Chor hat seinen letzten Auftritt. Ein Klavier spielt auch das letzte mal die Harmonien von Perfect Life. Die Kinderstimmen vom Anfang des Albums kehren zurück. Der letzte Akkord ist ein unalterierter Dominantakkord und wird unaufgelöst stehen gelassen.

Diese Art und Weise ein Album zu beschließen ist unspektakulärer als vielleicht die Taktik ein großen Finales zu verwenden, aber nicht minder effektvoll. In diesem Fall ist es schlicht wunderschön.

 

Ein paar Worte noch zur Story des Albums. 

Zu Neal Morses Momentum schrieb ich vor einiger Zeit noch: „Er hat einfach ferngesehen und hat sich von irgendeiner Sendung zu einem neuen Album inspirieren lassen. Wo findet man das schon, außer bei Neal Morse?“ Nun, man findet es bei Steven Wilson. Er hat sich von einer Fernsehsendung mit Namen Dreams Of A Life inspirieren lassen, welcher mehr oder weniger eine Dokumentation über eine wahre Geschichte ist. 

Joyce Vincent, eine beliebte, attraktive Frau, lebte in der Großstadt und starb beim Geschenke einpacken eines unbekannten Todes. Der Fernseher und die Heizung waren an, und Joyce Vincent würde die nächsten 3 Jahre dort liegen, bis irgendjemand etwas davon mitbekommt. Nachbaren dachten, nebenan wohnten Junkies, die den ganzen Tag in die Glotze starren. Der Geruch hätte vom Kompost stammen können, der sich gleich in der Nähe befand. Die Miete wurde automatisch bezahlt, bis Gerichtsvollzieher irgendwann Mietschulden von 2400 Pfund bemerkten und die Frau entdeckten. Keins ihrer Familienmitglieder, keiner ihrer Freunde oder Bekannten hatte sie vermisst. Es ist schwer vorzustellen, wie sowas passieren kann, und man stellt sich unwillkürlich die Frage, ob einem das genauso passieren könnte. Würden sich die Leute um einen sorgen und einen vermissen? Joyce Vincent war keine Außenseiterin, sie hatte Freunde, war sogar verlobt (dieser Teil verwirrt mich am meisten). Und trotzdem hat sich keiner drum geschert.

Das Album handelt nicht 1 zu 1 von dieser Story. Wilson erzählt nicht nur vom eigentlichen Vorfall, sondern erzählt biografisch Dinge aus früheren Zeiten, vergessen Beziehungen, verblassten Bekanntschaften. Beleuchtet wird dabei der Weg zur Entziehung vor der Außenwelt, die Vereinsamung. Wir haben auch hier wieder den Wilson-typischen Mix zwischen erzählerischen, biografischen Versen und philosophisch anmutenden Lebensweisheiten. Die Musik untermalt die Introvertiertheit der Texte hervorragend. Sehr traurig ist dann der Text des letzten Songs, in welchem die Protagonistin einen Brief an ihren Bruder schreibt, den sie anscheinend sehr lang nicht mehr gesehen hat. Sie gesteht ihm ihr Unglücklichsein und wie die Jahre an ihr vorbeirasen „wie Züge“. Der letzte Satz lautet „I’m feeling kind of drowsy now, so I’ll finish this tomorrow“ (etwa „Ich fühle mich gerade etwas schläfrig, ich werde das hier morgen zu Ende bringen“). Natürlich konnte sie den Brief nie zu Ende schreiben. So gesehen ist der sphärische Abschluss Ascendant Here On… wohl die Vertonung ihres Todes (sie aszendiert sozusagen in den Himmel). Das ist schon sehr berührend.

Und wenn man schon ein Album über die Vereinsamung schreibt, und man dann auch noch Steven Wilson ist, bietet es sich natürlich an, zu gewissen Dingen der heutigen Zeit etwas Kritik zu äußern. Er kritisiert das anonyme Großstadtleben, in dem keiner seinen Nachbarn kennt, in dem keine Sau sich für den nächsten interessiert, in dem man einfach als Zelle in einem Organismus arbeitet, der zwar äußerlich zu funktionieren scheint, aber innerlich krank und emotionslos ist. Er kritisiert weiterhin das Überhandnehmen von sozialen Medien (was auch sonst, die Kritik daran ist mittlerweile zu einem genauso verachtenswerten Hype geworden wie diese Medien selbst). Er bezeichnet sie als Home Invasion (sehr gelungener Einfall). Allerdings nicht in einer solch militanten Art und Weise wie noch 8 Jahre früher auf Fear Of A Blank Planet („My X-Box is a God to me“, Titeltrack des 2007er Albums).

Bleibt noch zu sagen, dass die erneut liebevolle Aufmachung des Albums (ich hab die 2 Disc Edition im Digibook) und die Illustration des Booklets die Fusion der introvertierten Texte mit der melancholischen Musik vollkommen macht. Man sieht Bilder der Protagonistin vom Kindesalter an, gesichtslos wirkende Neubauten und Stadtbilder, alles wirkt einsam, vergessen, ein wenig traurig. Man will wissen, was es mit dieser Frau auf sich hat. Wilson kreiert sowas wie eine fiktive Parallelwelt, die einem durch die Musik, die Texte und die Visualisierung näher gebracht wird. Man kann sich mit der Frau identifizieren, fast, als ob man sie selbst gekannt hätte.

Und obwohl man das Album als Unwissender in einem CD-Laden auch als Pop-Album einer Newcomersängerin identifizieren könnte (Steven Wilsons Name steht nicht vorne drauf), gefällt mir auch die Idee mit dem Cover: Ein Schwarz-Weiß Foto der Frau wird mit grellen Farben übermalt. Selbst hier kann man sich lange drüber Gedanken machen.

 

Hand. Cannot. Erase. begeistert mich in seiner Gesamtheit, wahrscheinlich noch mehr als es The Raven tat. Es ist eine konsequente Weiterentwicklung, und trotzdem finden sich die typischen Trademarks, wie der montone Gesang, der unverschämt gute Sound, die morbide Atmosphäre, die umwerfende Band, die melancholischen Texte, Wilsons generelle Unzufriedenheit mit der Entwicklung der heutigen Welt. Und um das alles auch noch komplett zu machen, hat Steven Wilson mit solcher Mucke auch noch Erfolg. Er wird überall im Netz als Modernisierer, ja sogar als Revolutionär des Progressive Rock gehandelt; als derjenige, der diese scheinbar vergessene Musikrichtung den jüngeren Menschen wieder nahebringt. Irgendjemand schrieb sogar, Hand. Cannot. Erase. sei das The Wall der Facebook-Generation. Naja, man kann davon halten was man will.. Aber wieso auch nicht. Steven Wilson ist introvertiert, er rennt immer barfuß rum, das ist irgendwie cool. Seine Musik ist auch introvertiert; introvertierte Mucke ist cool. Warum die Leute seine Musik auch gut finden, es ist doch egal, denn er bringt Kunstmusik wieder zum Leben.

Und damit bleibt mir nichts anderes übrig, als Hand. Cannot. Erase. jedem ans Herz zu legen, der mal wieder was neues, frisches hören will. Es wird sich herausstellen, ob das Musikjahr 2015 noch etwas Beeindruckenderes auf Lager hat als das hier. Weiterhin wird sich herausstellen, ob auch Steven Wilson selbst dieses Album noch mal übertreffen kann. Ich schrieb es bereits für Grace For Drowning, ich wiederhole mich gern noch mal: Wenn Wilson, dann so. Aber Grace For Drowning wurde hier übertroffen. 

Also, Kerzen an, Weinbulle auf, Beine hochlegen, zuhören, Klappe halten.

 

Bewertung:

Die 14 bekommt es in 4-6 Monaten, wenn es den Test of Time bestanden hat. Meine Begeisterung ist wohl nicht zu übersehen.

 

Vergleichbar mit:

Steven Wilson Solo, an vereinzelten Stellen hört man manchmal Einflüsse von King Crimson, Yes, Pink Floyd, Rush, U2 und Peter Gabriel; an einer Stelle glaube ich sogar Dream Theater's Outcry zu hören, aber das kann genau so gut auch Zufall sein. Home Invasion ist der Song, der am ehesten an Porcupine Tree dran ist.

 
 
 
 
Mehr von Steven Wilson:

Steven Wilson - Grace For Drowning (2011)

 

 

Kommentare

Es wurden keine Beiträge gefunden.

Neuer Beitrag