Yes - Drama (1980)

19.07.2014 18:44

Veröffentlichung: 1980

Genre/ Stil: Progressive Rock, ArtPop, Hard Rock

 

Besetzung:

Trevor Horn - Gesang

Geoff Downes - Keyboards 

Chris Squire - Bass

Steve Howe - Gitarre

Alan White - Schlagzeug

 

Titelliste:

1. Machine Messiah

2. Man In A White Car

3. Does It Really Happen

4. Into The Lens

5. Run Through The Light

6. Tempus Fugit

 
 
Ich hab keine Ahnung, wie man sein neues Album DRAMA nennen kann, wenn es in einer musikalischen Umbruchphase erscheint. Und noch weniger, wenn es sich bei dem Album um (ich nenne es mal) bandtechnische Stückwerkelei - jedoch nicht musikalische! - handelt: 

1978: Der Punk hatte England längst ergriffen, große Werke im XXL-Format waren völlig out, genauso wie ausladende Konzeptalben, mythologische, extrem tiefgängige Texte, musikalische Eskapaden und lange Soli. Das alles wurde damals der nachrückenden Generation als möglichst uncool, möglichst unsexy verkauft, sodass dem simplen, stupiden Punk (erzähle mir niemand etwas von einer angeblichen „Genialität“ des Punk), ursprünglich entstanden aus einer politisch orientierten Oppositionshaltung, kaum noch etwas im Weg stand, um kommerziell Karriere zu machen. Nunja, ich war damals nicht dabei, aber einer Sache bin ich mir relativ sicher: Dass eine Menge damaliger Punk-Musiker einige Pioniere aus der progressiven Schiene wie Peter Hammill (Van Der Graaf Generator), Robert Fripp (Crimso) oder auch David Bowie (einer der progressivsten Musiker im ursprünglichen Wortsinne) durchaus achteten, und diese oftmals sogar als Vorbilder oder Idole sahen, interessiert natürlich den aggressiven, alles scheiße findenden Punk herzlich wenig. So wurden Pioniere einer in Reinkultur gerade erst 8-9 Jahre bestehenden Musikrichtung als „Prog-DINOSAURIER“ bezeichnet und der nette, tolerante, welt- und interpretationsoffene Progressive Rock als Spießermucke abgestempelt.

Wenn die breite Masse nicht Punk hörte, dann hörte sie zumindest „einfachere“ Musik. Nachdem die Beatles 10 Jahre früher so beeindruckende Arbeit geleistet hatten, die Popmusik auf ein höheres Level zu hieven und gezeigt hatten, dass ein eingängiger Popsong nicht stets nur aus dem einfachen Strophe-Refrain-Muster gestrickt sein musste, schien man im musikalischen Niveau nun wieder zurückzugehen. Songs mussten kurz und prägnant sein, um an kommerziellen Erfolg zu gelangen. Die Zeiten, in denen Bands wie Emerson, Lake & Palmer oder auch Yes Stadien gefüllt haben, in denen man einen 25 Minuten Song am Stück vor 50.000 gebannten Menschen präsentieren konnte, ohne, dass ein paar Suffis zwischendurch das halbe Gelände demoliert hatten, waren vorbei. So kam, es, dass die einst großen Prog-Schlachtschiffe eine andere Richtung einschlagen mussten.

Einige lösten sich gleich komplett auf (Crimso oder Van Der Graaf), während die Musiker einzeln weiter machten (Fripp war sowieso einer der „Punks“ unter den Progmusikern), während andere versuchten, sich der mehr und mehr gefragten Massentauglichkeit in der Musik anzugleichen. Genesis haben das bekanntermaßen ziemlich erfolgreich geschafft und landeten 1978 mit Follow Me, Follow You ihren ersten Riesenhit. Pink Floyd bildeten wie immer unter allen Progbands die berühmte Ausnahme und veröffentlichten ein erfolgreiches Konzeptalbum nach dem anderen (auf Animals fand sich damals bis auf Intro und Outro nicht ein Song unter der 10 Minuten Marke). 

Yes machten von 74 bis 77 eine Pause, die jeder für Soloalben nutzte und fanden sich nach drei Jahren, als Band wiedervereint, in einer völlig umgewirbelten Musikwelt wieder. Was war los? Gerade eben hatten sie noch ihr größtes Meisterwerk Relayer veröffentlicht und nun schrie alles nach Pop Songs. Dass das von 0 auf 1 nix werden konnte, war natürlich klar. Sie versuchten zumindest, ihre Songs nicht mehr ganz so doll ausufern zu lassen und beschränkten sich weitestgehend auf Songs unter der 10 Minuten Grenze.

In den Paris-Sessions für den Nachfolger des „Tormato-Desasters“ hatten allerdings Anderson und Wakeman die Schnauze voll und verließen die Band. Beide hatten mit der sich durch Squire, White und Howe etablierenden Orientierung in Richtung eines härteren, griffigeren Sounds einige Probleme. Ab diesem Punkt begann das, was die nächsten 35 Jahre und bis heute unter dem Namen Yes fungiert, eine Art Drehkreuz zu werden: Musiker gingen, neue kamen, die gingen auch wieder oder wurden rausgeschmissen, dann wurden die anderen wieder ins Boot geholt, dann verstanden sich alle nicht mehr so richtig und man trennte sich, nur um im nächsten Jahr weiterzumachen, bliblablub - darauf will ich nicht genauer eingehen, das ist eine Diplomarbeit wert. Nur soviel: Ende der 80er Jahre bestanden für eine kurze Zeit mal zwei Yes-Bands; eine unter dem Namen Yes, die andere unter dem Namen Anderson, Bruford, Waken & Howe. Nunja. 

Das alles gelang natürlich nur durch geldgierige Manager, in erster Linie allerdings durch den eisernen Willen von Chris Squire, die „Band“ Yes am Leben zu halten. Und damit wären wir wieder bei DRAMA und der Stückwerkelei in Sachen Band und Besetzung angekommen. Der Name Drama zeigt unwillkürlicherweise auf, in welcher Situation sich die Band befand und deutete auf ein musikalisches.. nunja, Drama hin. 

1980: Squire, Howe und White hatten noch Bock auf Yes und wollten weitermachen. Sie waren im Londoner Town House und es traf sich, dass zwei gewisse Typen namens Trevor Horn und Geoffrey Downes im Nachbarraum zugange waren, um ihren eigenen Kram aufzunehmen. Die beiden waren damals besser bekannt unter dem Namen „The Buggles“, und hatten geraden den Superhit Video Killed The Radio Star gelandet. Diese Situation kam Chris Squire gerade recht. Er, Horn und Downes waren Fans der jeweils anderen Band, und so wollte man ins Geschäft kommen. Während Horn versuchte, Squire einen Song von sich zu verkaufen (dieser Song nannte sich  Fly From Here  und fand sich 31 Jahre später auf dem gleichnamigen Yes-Album - ganz andere Geschichte) war dieser vielmehr darauf aus, die beiden in die Band zu friemeln, da dieser zu dem Zeitpunkt gerade Sänger und Keyboarder fehlte. Squires Überredenskünste schienen Wirkung gezeigt zu haben, denn kurz darauf bestand das neue offizielle Yes-Lineup aus Howe, White, Horn, Downes und Squire. Und so begann die Arbeit an DRAMA.

 

 

Machine Messiah ist die Antwort auf die verbleibenden Yes-Fans der ersten Stunde, welche wegen der kurzen Songs auf Tormato befürchtet hatten, Yes hätten ihre charakteristischen langen Meisterwerke ad acta gelegt. Der fast 11-minütige Song beruht auf einer Grundidee, die aus der Buggles-Ecke stammt. Es handelt sich hier um eine triolisch gespielte Verbindung aus lediglich drei (diatonisch auch noch nebeneinanderliegenden) Tönen, E-Fis-G. Diese wurden durch unterschiedliche Rhythmisierung und Harmonisierung gleich zu mehreren Riffs verarbeitet, von denen zwei das Lied, und damit das Album, eröffnen. Aus dem Nichts kommt Howes Gitarre mit dem heavyen Eingangsriff, woraufhin ein kaum zu hörender Achtungsruf von White den Bandeinsatz und das Grundthema, ebenfalls bestehend aus den besagten drei Tönen, angibt. Und schon ist man drin, im Drama. Was für ein Songanfang, was für ein Albumanfang! Nie klang ein Yes-Groove so schleppend, nie klang ein Yes-Song so heavy, nie klang Howes Gitarre aggressiver, nie Whites Schlagzeug trockener. Mithilfe ein paar kurzen Interludien, welche ebenfalls nur aus den drei Tönen bestehen, wird das Riff ein wenig durch die Tonarten gejagt, bevor ein langer Schlagzeugfill das Intro abschließt und in den ersten Gesangspart einleitet. Urplötzlich geht man von Moll zu Dur (genial gemacht), und siehe da- ist Anderson doch noch da? Mitnichten! Von Anfang bis Ende zeigt Drama auf, wie wichtig Howes und vor allem Squires Gesang für den Yes‘schen Chorgesang und damit auch für den charaktischen Sound der Band war und ist. Horn, der hier als Leadsänger agiert, hat ebenfalls eine recht hohe, klare Stimme, die zwar zu keiner Sekunde die engelsgleichen Gesänge eines Jon Anderson erreicht oder erreichen will, sich allerdings sehr gut in den bekannten Chorgesang einreiht und in diesem Zusammenhang auch Vergleiche zur Stimme des eigentlichen Leadsängers Anderson zulässt. Natürlich fehlen hier Momente wie Soon oder And You And I, aber ohne großes Federlesen scheinen die übriggebliebenen Yesser die Lücke des Gesangs zu füllen. Auch Geoff Downes spielt ein veritables Keyboard; lange nicht so virtuos wie einst Patrick Moraz oder Rick Wakemann, aber mit damals modernen Sounds. Bereits in den ersten 3 Minuten lässt er aber auch mal die Orgel erklingen. Auch White macht seine Aufgabe sehr gut. In einigen Strophen und Quasi-Refrains (kein Song auf Drama hat einen wirklich eindeutig zuzuordnenden Refrain) spielt er Vierteltriolen auf der Hi-Hat über einen Shuffle-artigen Groove - ich wusste nicht, dass der Typ sowas drauf hat. Die Fills sind zum Teil sehr mächtig und äußerst gut gespielt. Beide Musiker (White, Downes) sollten gelungene Sachen wie die eben genannten später noch verlernen: Wenn man beobachtet, was White die letzten 20 Jahre dahinklopft und was Downes scheinbar für eine Allergie gegen geschmackvolle Keyboardsounds hat, dann kann man sich nur noch an den Kopf greifen.

Wie dem auch sei, in der Mitte von Machine Messiah findet sich eine noch düsterere Version des Dreitonriffs wieder, dargestellt als Reprise des Grundthemas. White nimmt jeden Schlag auf Bassdrum und Crash mit und Downes legt einen bedrohlichen Keyboardchor unter die abgrundtiefe Gitarre von Howe. Geil. Danach setzt Howe ein mit einem wahnsinnig guten Gitarrensolo, wo er eigentlich nicht viel mehr macht, als die Grundmelodie etwas zu variieren. Hier muss ich sehr oft meine Luftgitarre auspacken. Manche folgenden Akustikgitarrenstellen erinnern mich dann manchmal ein wenig an Pink Floyd (Welcome To The Machine), nicht zuletzt auch wegen der gelungenen Keyboardsounds. Im Folgenden finden wir noch eine Variationen bereits vorgestellter Themen, mehrere Soli und Instrumentalteile und so ca. 2 Minuten vor Schluss die letzte Version des genial-einfachen Grundthemas, diesmal unterlegt von einer Bach-artigen Harmoniewendung. Ein Moment, auf den ich jedes mal beim Hören des Songs warte, und der für mich für die Ewigkeit geschrieben ist. Einfach großartig! Der Song mündet in eine Reprise eines bereits bekannten Gesangsteil, bevor er dann beinahe dort aufhört, wo er anfing: im Nichts.

Machine Messiah ist für mich das letzt große Meisterwerk von Yes und hat einen absoluten Sonderstatus im Schaffen der Band. Der Song ist nicht in Teile gegliedert, sondern vollkommen aus einem Guss. Es gibt auch keinen ausufernden Solopart, keinen Teil, den man jetzt als „das Keyboardsolo“ oder „das Gitarrensolo“ des Songs bezeichnen könnte. Der einzige Song von Yes, der für mich in dieser Hinsicht einer ähnlichen Idee folgt, ist And You & I. Themen werden so oft auf unterschiedliche Arten und Weisen wiederholt, dass sie einem sehr schnell bekannt vorkommen. Dabei lässt man Wiederholungen stets in andere Teile münden, sodass der Song zwar absolut unkonventionell aufgebaut ist, er aber trotzdem nicht schlüssiger wirken könnte. Hier einmal eine Skizzierung des Aufbaus.

0:00 - 0:18 - Intro: 8tel-Triolen-Thema

0:19 - 0:32 - Intro: Grundriff

0:33 - 0:36 - Intro: Instrumentale Interlude A

0:37 - 0:51 - Intro: Grundriff transponiert

0:52 - 0:55 - Intro: Instrumentale Interlude A 

0:56 - 1:12 - Intro: Grundriff mehrfach transponiert

1:13 - 1:26 - Intro: Instrumentale Interlude A erweitert

 

1:27 - 2:07 - 1. Strophe

2:08 - 2:20 - 2. Strophe (anders instrumentiert)

2:21 - 2:35 - Quasirefrain

2:36 - 2:45 - Bridge A (,Waiting for change‘)

2:46 - 3:14 - Instrumentale Interlude B

3:15 - 3:40 - Bridge B (,Friends‘)

3:41 - 3:55 - Quasirefrain

3:56 - 5:10 - Instrumentale Interlude C

 

5:11 - 5:45 - 1. Reprise Grundriff und Gitarrensolo

5:46 - 6:45 - Lange Bridge 3 (Quasistrophe) (,Machine‘)

6:46 - 6:54 - 8tel-Triolen-Thema

6:55 - 7:04 - Instrumentale Interlude A erweitert

 

7:05 - 7:17 - Strophe instrumental ausgeschmückt

7:18 - 7:34 - 3. Strophe

7:35 - 7:48 - Quasirefrain

7:49 - 7:59 - Bridge A (,Waiting for change‘)

8:00 - 8:31 - Instrumentale Interlude B erweitert und langer Synchronteil

 

8:32 - 8:57 - 2. Reprise Grundriff mit Bachharmonik

8:58 - 10:02 - Lange Bridge 3 (Quasistrophe) (,Machine‘) mit Grundriff von Akustischer Gitarre und Continuum

10:03 - 10:27 - 8tel Triolen hamonisiert

 

Man In A White Car ist für ein Intermezzo, was zwar nicht völlig deplatziert ist, auf welches ich aber durchaus hätte verzichten können. Es erinnert mich etwas an Cans & Brahms (obwohl das wiederum schon sehr nahe an der Blasphemie war). Es handelt sich hier um nicht viel mehr als den Nachfolger eines sehr starken Openers, und den Vorgänger eines starken nächsten Songs. Dieser starke Song heißt Does It Really Happen und fängt an mit einem superben Rickenbacker-Bassriff, gefolgt von einem Spitzenfill von White. Ja, der Typ konnte echt mal gut Schlagzeug spielen. Die Grooves, die Fills, die so typisch nach ihm klingen, stehen dem Song einfach nur zu gut. Oberflächlich gesehen haben wir hier eigentlich einen straighten Keyboard-Stampfer vor uns, aber wenn man sich den Song mal genauer anhört, wird man erkennen, dass dem eigentlich nicht so ist. Vorallem der Begriff straight ist hier ziemlich fehl am Platze.

Das eingehende Bassriff ist zwar im 4/4, muss aber eindeutig als ein 3/4 - 5/4 Wechsel gedeutet werden. Spannend wird es dann, wenn Fills und Kicks der anderen Musiker hinzukommen, deren Einsätze einem vorgaukeln, man würde auf eine 1 hinspielen, wo sie tatsächlich konsequent auf Und-e-Werten (!) landen, und das mitten im Takt. Wenn man also einfach Viertel mitnickt, was durchaus möglich ist, da der Song mit Einsatz des Grooves genialerweise perfekt auf einer 1 landet, denkt man permanent, man sei aus dem Takt. Dass man doch richtig lag, zeigt einem dann der (diesmal wirklich straighte) Schlagzeugrhythmus, der knallhart unter den 3/4-5/4 Wechsel und die Und-e-Kicks gelegt wird. Direkt darauf wird einem der nächste Clou um die Ohren gehauen. Die Band fängt auf einmal an, Vierteltriolen über zwei 3/4-Takte zu spielen, gefolgt von einem 5/4-Takt. Allerdings klingt das ganze so undreiviertelig wie nur möglich, weil das Schlagzeug immer noch den Groove unten drunter durchzieht als wär nix gewesen. Diese Idee wird später im nächsten Song nocheinmal ausgebaut. Nur am Ende des 5/4-Taktes wird ein Snareschlag weggelassen. Also selbst diesen Wechsel bemerkt man kaum. In den späteren Wiederholungen dieses Motivs wird dieser Wechsel sogar noch uneindeutiger vom Schlagzeug überspielt. Was für eine Einleitung. Wie gesagt, hört man das nebenbei, wird einem nichts auffallen. Das Vorspiel der ersten Strophe, jedenfalls, hat mit einem einfacheren Riff aufzuwarten, das aber kurioserweise nach anderthalb mal einfach abgebrochen und noch mal von vorne gespielt wird. Super Idee. Die Melodie der Strophe selbst ist recht einfach gestrickt und wird, so wie ich es höre, vordergründig von Chris Squire vorgetragen. Später wird sie noch etwas variiert und von einer Orgel umspielt. Interessant ist hier wieder, dass man keinen richtigen Refrain vorfindet. Der Teil, der auf dem Vierteltriolenmotiv beruht, fungiert zwar als eine Art Chorus, er hat aber für mich nicht den Charakter dafür. Viel eher sehe ich ihn als einen Pre-Chorus zu einem Chorus der einfach nicht folgt. Die folgende Reprise des Intros wird dann noch einmal verwirrender gestaltet, in dem kurze gesungene Worte (vgl. Siberian Kathru) auf erneut unkonventionelle Zählzeiten eingeschoben werden. Irgendwann hört der Song einfach komplett auf, bevor Downes mit einem futuristischen Keyboardsound eine Coda inklusive Basssolo einleitet. Wenn White dann auch noch auf die Rideglocke geht, kann man eigentlich fast nur noch anfangen zu tanzen. Does It Really Happen ist ein grandioser Song auf den zweiten Blick. Die Chorgesänge sind hier vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig, aber die Details dafür extrem spannend.

 

Das folgende Into The Lens führt die Idee fort, rhythmisch komplexe Ideen als simpel zu verkaufen. Hier wird mehr mit 6/4 und 4/4 gespielt. Harmonisch und melodisch wird es aber um einiges eingängiger als Machine Messiah und Does It Really Happen. Es gibt von dem Song eine Buggles-Version, die sogar als Single ausgekoppelt wurde. In diesem Zusammenhang ist Into The Lens ein Paradebeispiel dafür, wie man aus einem 3 Minuten Popsong einen 9 Minuten Progsong macht und, eng damit verbunden, wie man auch völlig unpeinlich eingängige Popmelodik mit den komplexen Metren des Prog verbinden kann. Dafür sind die stets recht melancholischen Buggles Nummern mit ihrem regnerischen London-Feel natürlich bestens geeignet. Auch wird gezeigt, was für Potenzial in vielen Pop-Songs steckt, das in den ihnen gegebenen 3 Minuten oftmals einfach nicht ausgeschöpft wird.

Das Eingangsriff zum Beispiel klingt beim besten Willen nicht nach einem 3/4 oder 6/4 Takt; wenn man allerdings mitzählt, merkt man, dass wir uns tatsächlich nicht in einem 4/4 bewegen. Der ungemein knackende Bass und die hektischen Keyboardstakkati antworten gelungenermaßen auf einander, während White beides unten drunter mit Bassdrum und wirbelnder Snare mitmacht. Weiterhin wird auch genial vertuscht, dass die Grundmelodie der Strophe von der Gitarre im 4/4 vorgestellt wird, die eigentliche erste Strophe aber im 6/4 steht. Davon merkt man absolut nichts. Wieder bemerkenswert ist, dass der wohl als Refrain angelegte Teil (,I am a camera‘) eher ein Pre-Chorus ist. Was danach folgt, klingt für mich schon wieder nach einer Bridge. Somit ist der Song noch viel weniger eindeutig aufgebaut als Does It Really Happen. Er behält allerdings seinen Charakter als Lied, im Gegensatz zum eben mal 2 Minuten längeren Machine Messiah, das seiner Anlage als „Epic“ trotz der dafür recht kurzen Spielzeit hervorragend nachkommt. Das könnte daher kommen, dass Into The Lens auf wesentlich poppigere, groovigere Motive und Melodien setzt. Dabei folgt es aber ähnlich wie Machine Messiah dem Prinzip, wenige Ideen zu variieren und auszuwalzen. Desweiteren haben die beiden die Gemeinsamkeit, dass die Parts immer in andere verschiedene Teile münden. So findet sich das Bassstakkato vom Anfang im ,I am a camera‘-Teil wieder; die Gesangslinie im folgenden Teil beginnt mit dem selben rhythmisierten Intervall wie die Strophe;  der ,you and me‘-Teil wird später irgendwann mal vom 4/4 zum 3/4 Takt verkürzt, indem einfach Pausen gestrichen werden usw. 

Nicht zuletzt wird das alles auch extrem gut von Whites Schlagzeug kaschiert, das stellenweise einfach völlig straighte 4/4 Grooves über sich ändernde oder verschiebende Metren spielt.

Dass Into The Lens trotz allem als Ganzes funktioniert und durchaus einheitlich wirkt, hat es wohl im Endeffekt seiner durchgängigen, einzigartigen (und noch dazu schwierig zu beschreibenden) Stimmung zu verdanken. Seine Struktur ist jedenfalls durchaus komplex und nicht ganz einfach zu durchschauen. Obwohl ich das Lied schon längst auswendig mitsingen kann, brauchte ich doch eine Weile um in diesem wirren Aufbau durchzusehen. Ich hab trotzdem mal versucht, den aufzuschreiben.

0:00 - 0:56 - Intro 

0:57 - 1:40 - Strophe (1. ohne Schlagzeug, 2. mit Schlagzeug)

1:41 - 1:59 - Pre-Chorus (,I am a Camera‘)

2:00 - 2:29 - Strophe (mit Schlagzeug)

2:30 - 2:49 - Pre-Chorus (,I am a Camera‘)

2:50 - 3:00 - Bridge A (,And you‘)

3:01 - 3:37 - Bridge B (,There by the waterside‘, 4/4)

3:38 - 4:04 - Instrumental Interlude 1

4:05 - 4:23 - Bridge C (,Taken so easily‘)

4:24 - 5:04 - Intro Wiederholung

5:05 - 5:33 - Strophe (,Take heart‘)

5:34 - 5:44 - Pre-Chorus (,I am a camera‘)

5:45 - 6:03 - Bridge C (,Taken so easily‘)

6:04 - 6:30 - Instrumental Interlude 2

6:31 - 6:40 - Bridge A (,And you‘)

6:41 - 6:47 - Pre-Chorus (,I am a Camera‘, Vocoder)

6:48 - 7:20 - Bridge C wird mit Pechorus gemischt (,I am, I am‘)

7:21 - 7:43 - Bridge B (,Here, by the waterside‘, 6/4)

7:44 - 8:01 - Bridge C wird mit erneut Pechorus gemischt (,I am, I am‘)

8:02 - 8:32 - Outro (entspricht Intro)

 

Die letzten beiden Songs erreichen in Hinsicht auf Komplexität und Raffinesse nicht ganz das Niveau der ersten Kracher. Dennoch geht ihnen nicht das gewisse Etwas ab, das sie nicht langweilig wirken lässt.

Run Through The Light ist der erste Song, dessen Aufbau zumindest weitgehend konventionell wirkt. Trotzdem hat es bei mir hier am längsten gedauert, bis ich damit was anfangen konnte. Das liegt meiner Ansicht nach an der seltsamen Art und Weise, wie der Song vorgetragen wird, nebst seiner eigenartigen, kalten, fast gefühlslosen Stimmung. Die Keyboardsounds sind im Vergleich zu Into The Lens erneut futuristisch wie in Does It Really Happen und einfach viel deutlicher im Vordergrund. Chris Squire hat bei diesem Stück anscheinend seinen Rickenbacker stehen gelassen und den Fretless Bass ausgepackt. Dadurch stampft der Song schon mal weniger, trotz Whites Schlagzeugspiel. Letzterer spielt in diesem Song völlig beckenlos und beschränkt sich auf Bassdrum und Snare, nebst ein paar mächtiger Tomfills. Sein Spiel ist in diesem Song nicht sehr weit entfernt von Phil Collins‘ charakteristischem 80er- und 90er-Schlagzeug, was dieser interessanterweise erst so richtig 1983, also drei Jahre nach der Veröffentlichung von Drama, zur Reinkultur entwickelt hat. Es kommen bei mir aber auch Erinnerungen an den berühmten Schlagzeugsound aus Bowies Album Low. 

In seiner Gesamtheit ist Run Through The Light eine Art Klanggemälde. Selbst in den Strophen spielt jedes Instrument eine vom Rest völlig unabhängige Stimme. Seinen stellenweise schwebenden Charakter zerstört das Schlagzeug. Insgesamt wirkt die Darbietung des Songs extrem zerrissen, manchmal kann ich nicht mal nachvollziehen, warum White jetzt einen Bassdrumschlag und keinen Snareschlag spielt. Das macht den Song aber aus.

 

Im Direktvergleich zu diesem Song hat man beim folgenden und abschließenden Tempus Fugit hin und wieder mal das Gefühl, jemand hätte die Geschwindigkeit vom Plattenspieler hochgestellt. Hier ist wirklich der Name Programm.

Im Intro wird einem erneut vorgegaukelt, die von Orgel und Gitarre gespielten Notenwerte wären Viertel, besonders, als das Schlagzeug diese mitspielt. Aber unmittelbar danach, wenn die Hi-Hat einsetzt, merkt man, dass man rhythmisch mal wieder verarscht wurde. Auf der Stelle ist man in Tempus Fugit drin, es handelt sich um einen extrem treibenden, schnellen Song, der sich und dem Hörer kaum eine Pause lässt. Bereits im Intro werden einige Motive vorgestellt, die später wieder aufgenommen werden. Wieder wird ein Vocoder eingesetzt, bevor die hektische Strophe angestimmt wird. Auch Tempus Fugit hat keinen Refrain, und auch nichtmal einen Part, der im Ansatz dafür in Frage kommen würde. An seiner Stelle steht ein treibendes Bass-Gitarren-Riff. Interessant ist hierbei, wie oft das Bass-Gitarren-Riff hier wiederholt wird. Das funktioniert meiner Ansicht nach nur, weil es oft variiert oder erweitert wird, und so gut wie immer wo anders hinein mündet.

0:00 - 0:24 - Intro: Thema 1 (Vierteltriolen)

0:25 - 0:53 - Intro: Riff (Bass + Gitarre)

0:54 - 1:04 - Intro: Bridge (Vocoder)

1:05 - 1:13 - Riff

1:14 - 1:24 - 1. Strophe

1:25 - 1:29 - Riff

1:30 - 1:38 - 2. Strophe

1:39 - 1:49 - Riff

1:50 - 2.00 - Instrumental Interlude A

2:01 - 2:27 - Strophe

2:28 - 2:38 - Riff (Mit Andeutung vom Interlude A)

2:39 - 2:55 - Bridge mit Vocoder und Gesang --> ,YEEEES‘

2:56 - 3:23 - Intro + Instrumental Interlude A

3:24 - 3:35 - Riff

3:36 - 3:46 - Strophe

3:47 - 3:50 - Riff

3:51 - 4:00 - Strophe

4:01 - 4:11 - Riff (mit Andeutung vom Interlude A)

4:12 - 4:34 - Bridge mit Vocoder und Gesang

4:35 - 5:21 - Thema 1 (Viertelnoten) + Kurzer Soundwirrwarr

 

Damit endet das Album relativ unentschlossen. Störend empfinde ich das eigentlich nicht, da es zur rauen Stimmung und der „Unperfektheit“ von Drama beiträgt. Wir haben hier sicherlich kein Close To The Edge vor uns, trotzdem aber das letzte richtig gute Yes Album. Ich empfinde es deutlich besser als Tormato (obwohl ich auch das nicht so schlecht finde wie einige es beschreiben). Anzukreiden sind auf jeden Fall die zu kurze Spielzeit (36 Minuten) und der unnötige Schnipsel Man In A White Car. Wirklich störend fällt aber beides nicht auf. Dramas 36 Minuten sind so vollgepackt mit guten Ideen, dass man die Kürze entschuldigen kann und Man In A White Car ist halt nicht mehr als eine kurze Überleitung, die man auch skippen kann. Außerdem geht sie ja nur eine Minute.

Weiterhin beinhaltet Drama sicherlich eins der größten Meisterwerke der Band, Machine Messiah - ein Song der sich unter meinen liebsten 5 Yes Lieder findet. Aber auch der Rest kann mit seiner versteckten Komplexität und Raffinesse überzeugen. 

Interessant zu wissen wäre gewesen, wie die Songs mit Jon Anderson und Rick Wakeman geklungen hätten. Andererseits ist dieses Thema auch fast hinfällig, da sie mit den beiden statt Downes und Horn nie entstanden wären. Horn macht seine Aufgabe als Sänger und vorallem als Produzent sehr gut. Auch Downes spielt ein gutes Keyboard, ganz im Gegensatz zu seinen Leistungen der letzten 3 Jahre bei Yes. Whites bereits oft angesprochenes Schlagzeug ist erdig und sehr prägnant. Auch hier erreicht er zu keiner Sekunde die Genialität eines Bruford, aber das empfinde ich sogar als mehr zur Musik passend. Oft frage ich mich, was Bruford beispielsweise aus manchen Stellen von Tales From Topographic Oceans rausgeholt hätte (nicht dass White dort schlecht gespielt hätte), aber der Musik von Drama steht der knochentrockene Sound und Stil des Schlagzeugs einfach ungemein gut. Howes grandiose, flirrige Gitarre setzt dem ganzen noch den letzten Yes-Touch auf und ist sowieso wie fast immer indiskutabel.

Nach der Veröffentlichung und Tour von Drama sind Horn und Downes wieder ausgestiegen, und die Drei Alt-Yesser standen erneut alleine da. Sie lösten sich dieses mal auf. Squire und White sollten sich drei Jahre später wieder unter dem Namen Yes zusammentun, und zwar mit ihrem alten Keyboarder Tony Kaye, mit Jon Anderson und einem südafrikanischen Gitarristen namens Trevor Rabin. Heraus kam Yes-West. Das erfolgreiche Nachfolgeralbum 90125 ist aber dann mit DRAMA garnicht mehr zu vergleichen. Letztendlich ist das kein Yes-Album. Jedoch läutet Drama die Stückwerkelei von Yes ein, was seine Mitglieder betrifft. Beinahe jeder ist da mal gegangen und wiedergekommen. Auch Trevor Horn und Geoff Downes sollten noch mal zurückkehren, 31 Jahre später. Aber das ist wie gesagt eine andere  Geschichte .
 
 
 

Bewertung: 

Machine Messiah:  15

Schade, dass Drama nur so kurz ist. Hätte an der Stelle von Man In A White Car eine weitere Nummer im Stile von Into The Lens gestanden, wäre es eine 12 geworden, mindestens. 

 

Vergleichbar mit: 

The Buggles meets Yes - und zwar als ziemlich eindeutiger Mix.

 

 

 

Mehr von Yes:

Yes - Yes (1969)

Yes - Tales From Topographic Oceans (1973)

Yes - Symphonic Live (2002)

Yes - Heaven & Earth (2014)

Yes - Progeny: Seven Shows From Seventy-Two (2015) (in Arbeit)

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