Donald Fagen - The Nightfly (1982)

19.10.2016 11:28

Veröffentlichung: 29. Oktober 1982

Stil/ Genre: Jazz-Rock, Fusion, Artpop

 

Besetzung:

Donald Fagen - Lead Vocals, Orgel, Synthesizer, Synth Blues Harp, Electric Piano, Piano, Background Vocals, Horn Arrangements

Larry Carlton - Gitarre

Rick Derringer - Gitarre

Steve Khan - Gitarre

Hugh McCracken - Gitarre

Dean Parks - Gitarre

James Gadson - Drums

Ed Greene - Drums

Steve Jordan - Drums

Jeff Porcaro - Drums

Anthony Jackson - Bass

Marcus Miller - Bass

Will Lee - Bass

Abraham Laboriel - Bass

Chuck Rainey - Bass

Ronnie Cuber - Bariton Saxofon

Michael Brecker - Tenor Saxofon

David Tofani - Altsaxofon

Dave Bargeron - Posaune, Euphonium

Randy Brecker - Trompete, Flügelhorn

Frank "Harmonica Frank" Floyd - Background Gesang

Leslie Miller - Background Gesang

Daniel Lazerus - Background Gesang

Zachary Sanders - Background Gesang

Valerie Simpson - Background Gesang

Gordon Grody - Background Gesang

Starz Vanderlocket - Background Gesang, Percussion

Roger Nichols - Percussion, Special Effects

Michael Omartian - Piano, Electric Piano

Greg Phillinganes - Synthesizer, Piano, Electri Piano, Clavinet, Synthesizer Bass

Rob Mounsey - Percussion, Horn Arrangements

Gary Katz - Production

Elliot Scheiner - Mixing, Tracking

Bob Ludwig - Mastering

Greg Allen - Design, Art direction

Andrew Thomas - Screen Design

Cory Frye - Editorial Supervision

James Hamilton - Cover Photo

+ more . . . . . . . . . . 

 

Tracklist:

1. I.G.Y. (What A Beautiful World)

2. Green Flower Street

3. Ruby Baby

4. Maxine

5. New Frontier

6. The Nightfly

7. The Goodbye Look

8. Walk Between Raindrops

 
 
 

"Note: The songs on this album represent certain fantasies that might have been entertained by a young man growing up in the remote suburbs of a northeastern city during the late fifties and early sixties, i.e., one of my general height, weight and build. - D.F.“

Donald Fagen, 1982

Holt man die Erstauflage von Donald Fagens erster Solo-LP aus dem Schuber und wirft einen Blick in die Linernotes auf der hellblau-ausgeblichenen Papierschutzhülle, so wird man diesen Satz als Einführung in die einzigartige Welt, in die einen Fagen für knappe 39 Minuten entführt, finden. Öffnet man dann eine annehmbare Flasche Mendozanischen Malbec, legt die Nadel kurz vor die erste Rille der Platte und setzt sich mit der eben genannten hellblauen Papierschutzhülle, auf der die Texte abgedruckt sind, aufs Sofa, so begibt man sich mit den unmittelbar danach beginnenden Knistergeräuschen und dem unverkennbaren Fagen-Sound, der einem mit I.G.Y. entgegentönt, in entfernte Vororte einer Stadt im Nordewesten der USA, und in Geschichten, die Fagen dort in den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern widerfahren sind.

Das Cover von The Nightfly zeigt den Meister höchstselbst weißem Hemd und Krawatte, umgeben von einem 16-Zoll Plattenspieler aus den Fünfzigern, einem RCA-Mikrofon, einem angefangenen Softpack Chesterfield Kings, eine davon in seiner Hand, sowie einer Streichholzschachtel, einem Aschenbecher und einem Exemplar der 1958er LP Sonny Rollins & The Contemporary Leaders. Neben ihm an der Wand hängt ein Klemmbrett mit Notizen und eine überdimensional große Uhr. Es ist 4:09. Lester, The Nightly, ein einsamer Radiodiscjockey während seiner Nachtschicht. Auf der Rückseite sieht man das Geschehen von außen: ein einzelnes, beleuchtetes Fenster in einer düster wirkenden Landschaft aus kleinen Häusern einer Reihensiedlung. Das Cover ist bis auf den Schriftzug des Interpreten und Albumnamens in dunklen Grautönen gehalten, sehr passend zur Thematik und musikalischen Grundstimmung des Albums.

Man hat den Eindruck von Fagen als Einzelgänger und bekommt Interesse, mehr von ihm zu erfahren. 16 Monate vor der Veröffentlichung von The Nightfly trennten sich die Wege von Walter Becker und Donald Fagen, nachdem sich ihr Meisterwerk Gaucho als vorerst letztes herausstellen sollte. Ein typisches Phänomen der Musiklandschaft im Umbruch der Siebziger in die Achtziger. Musikalische Ausrichtungen veränderten sich, weil Interessen der breiten Masse sich wandelten, Musiker zerstritten sich wegen ebenjenen Veränderungen. Bands, die Anfang der Siebziger ihren Karrierestart vorgelegt hatten, wurden zunehmend bekannter und kamen in rechtliche, persönliche oder finanzielle Zwickmühlen (z.B. Pink Floyd, Eagles, ELP). So auch Steely Dan.

Während Becker mit seiner Familie nach Maui zog (sein trockener Kommentar dazu: „I became an avocado rancher and self-styled critic of the contemporary scene.“), machte sich Fagen ans Werk, um sein erstes Soloalbum aufzunehmen. Die Transition in Richtung Achtziger-Jahre-Sound gestaltete sich aufgrund der generellen Nähe des Steely-Dan-Stils zu bewegten, groovelastigen Kompositionen weit leichter als bei manch anderer Band und war nach einigen Anklängen auf Gaucho (Glamour Profession) mit The Nightfly endgültig vollzogen. So atmet auch dieses Album, es wird kaum jemanden überraschen, die charakteristische Steely Dan-Luft, verrät aber auch, inwiefern Becker Einflüsse auf dieselbe hatte. Der typische Sound zeigt sich hier noch eine Spur glatter, perfekter (ist das nach Gaucho überhaupt noch möglich?), polierter, vielleicht eine Nuance kühler. In den Liner Notes versammeln sich ganze 31 Musiker, darunter alte Bekannte, wie Jeff Porcaro von Toto, die beiden Brecker Brüder, Larry Carlton, Chuck Rainey, Hugh McCracken oder Anthony Jackson.

Fagens Geschichten, sein Rhodes und sein ungewohnt oft im Satz auftauchender Gesang bestimmen das Geschehen, sowie natürlich unfassbar ausgefeilte Arrangements, bei denen man sich nicht selten fragt, wie diese in ihrer Komplexität und Vielseitigkeit noch immer derart luftig, beinahe einfach und zu keiner Sekunde überladen klingen können. Die Stimmung ist nostalgisch, vergessen und verraucht, von ebenjener Zigarette, die Donald, alias Lester The Nightfly, auf dem Cover in der Hand hat.

 

„All (lot) occurred relatively quickly in a very short time frame, there was little to indicate it wouldn't keep going."

So beginnt beginnt der erste Song, I.G.Y. (What A Beautiful World), mit einem Ridebecken-Auftakt, schnellen, perlenden Keyboardarpeggien, einer breiten Rhodesfläche und für diese Zeit sehr typisch klingende Synthie-Staccatopfünde auf 2 und 4. Richtig, drei Tasteninstrumente, die gleichzeitig spielen. Von der ersten Sekunde an wird eine unverwechselbare Klangwelt heraufbeschworen, die so nur von Mr. Fagen stammen kann. Kurz darauf setzt das Schlagzeug ein und die breite Fläche weicht einem beinahe zickig gespielten, unheimlich abgeklärt klingenden Shuffle. Die begleitende Gitarre unterhält sich mit dem begleitenden Rhodes, bevor ein weiterer Synthie und mehrere Bläser sich dazugesellen, und erst unisono, dann im Satz das Grundthema vorstellen. Bevor die erste Minute rum ist, schickt uns Fagen mit dem Übergang in die erste Strophe von Ab-Moll nach F-Moll, indem der letzte Akkord, Dbmaj7(#11)/Eb als Dominantvertreter für Eb7 in beiden Tonarten verwendet werden kann - Babylon Sisters machte sich knapp zwei Jahre früher ähnliche Techniken zu Nutze. Der Groove wird unermüdlich durchgezogen, während im Prechorus zurück zu Ab-Moll moduliert wird und mehrere Gitarren und Bläser hinzukommen. Im Refrain singt Fagen mit einigen Backgroundsängerinnen, auch hier machen sich Erinnerungen an Babylon Sisters breit. Raffiniert ist, dass die dritte Strophe Strophe einfach durch ein Keyboardsolo ersetzt wird; so bricht man die Struktur des Liedes nicht auf und behält den Fluss des Songs perfekt bei. Der darauffolgende Prechorus wird ums zweifache und einen angehängten Takt verlängert. Letzterer leitet durch seinen Mixo-b13 Charakter perfekt in den letzten langen Refrain über. Das ist das einzige mal im gesamten Song, wo die Form verändert wird. Die Harmonien sind teilweise unmöglich eindeutig zu bestimmen. Kompositorisch ist das schon meisterhaft. Der Song beinhaltet eine anderthalbminütige Coda, die das Anfangsthema auswalzt und dem Keyboard ein (verhaltenes!) Solo gönnt.

I.G.Y. heißt ausgeschrieben International Geophysical Year. Dieses Jahr war eine Periode zwischen Mitte 1957 und Ende 1958, in der nach internationaler Abmachung wissenschaftliche Forschungen in verschiedenen Gebieten betrieben wurden. Dieses recht uncharmante Thema wird im Song persifliert und natürlich nicht aus der Sicht eines Forschers oder gar Politikers dieser Zeit, sondern von einem zeitgenössischen Bürger der USA, also höchstwahrscheinlich Fagen selbst, betrachtet. Diese Zeit schien die Menschen damals in einen recht oberflächlichen Optimismus, beinahe in eine Euphorie versetzt zu haben, die von den wissenschaftlichen Fortschritten herzurühren schien. Der Zeitgeist war von der Gewissheit bestimmt, dass die Wissenschaft sämtliche Probleme lösen könnte und würde, und dass es für jeden ein Stück Zukunft geben würde.

Vor diesem Hintergrund singt nun Fagen mit übertriebenen Formulierungen von einer wunderbaren Welt, die sich den Menschen bald eröffnen würde. Der Krieg war längst vorbei, die Wissenschaft schritt fort, bald würden alle ihre Probleme vergessen sein. Ein Unterwassertunnel zwischen New York und Paris steht als Symbol für den Umstand, dass nichts unmöglich sei und schlägt eine sprichwörtlich-metaphorische Brücke zwischen den Vereinigten Staaten und den weit entfernten europäischen Ländern; ein Gedanke, der im weiteren Verlauf von The Nightfly noch einmal aufgegriffen wird („[…] till I finally lmake up my mind, to learn design and study overseas“). Abrunden tut Fagen diese Gedanken mit der auch heute noch presenten amerikanischen Selbstsicherheit, sarkastischen Nebenbemerkungen wie „There’ll be Spandex jackets, one for everyone“ oder „Ninety minutes from New York to Paris“ und zeitgenössischen Slangfloskeln wie die Abkürzung „A.O.K.“. 

Damit stellt I.G.Y. den perfekten Opener dar, nicht nur musikalisch, sondern auch textlich. Durch die protagonistenlose Darstellung und Persiflage dieses Themas bilden die Lyrics dieses Songs die perfekte Einleitung in den damaligen Zeitgeist und die Gedankenwelt der Menschen, um die herum Fagen aufgewachsen ist.

 

„(He) "keeps" his squeeze in her neighborhood--he can't be seen elsewhere with her--and that her brother bluntly accuses him of being a white boy in search of exotica.“

Mit Green Flower Street nimmt uns Fagen vom allgemeinen Zeitgeist der Menschen hin zu direkten Erfahrungen und Erlebnissen eines Protagonisten, naheliegenderweise Fagen selbst.

Vom ternären I.G.Y.-Shuffle geht es nun in einen ziemlich coolen 130bpm Groove mit gleich mehreren, den Song fast komplett durchlaufenden Ostinatofiguren (= immer wiederkehrende Figuren desselben Instruments). Rechts hört man eine gemutete Gitarre, die immer wieder ein ähnliches Lick spielt, links antwortet eine zweite mit einem rhythmisch ähnlichen, höheren Lick. Die beiden intervenieren hervorragend, bis sie am Ende aller vier Takte zusammenspielen. Bass und Keyboard verzahnen sich in ihrer Begleitung ebenfalls wunderbar, indem der Bass eine auf- und dann wieder absteigende Linie spielt und von einem Clavinetähnlichen Instrument mit langen und kurzen Kicks harmonisch unterstützt wird. Dadurch, dass nie wirklich eine Fläche liegt, sondern immer wiederkehrende, kurze Kommentare unterschiedlicher Instrumente sich abwechseln, entsteht ein recht agiles Klanggebilde. Das ist die Magie von Ostinatofiguren, besonders, wenn man gleich vier aufeinander gelegte hört. Der unermüdliche Charakter des Arrangements wird verstärkt von der sehr mit viel Höhen versehenen Hi-Hat. Harmonisch befinden wir uns zumindest in der Strophe vage im dorischen Bereich. 

Der Text scheint mir von einer nicht gerade stressfreien Beziehung zu handeln. In irgendeinem verrückt-verruchten Stadtteil - der später erwähnte Name Lou Chang legt China Town oder Ähnliches nahe - hat sich der Protagonist offenbar in eine Dame verguckt, die er liebevoll seine „Mandarin-Plum“ nennt. Die Bridge, in der Fagen von einem „special place for lovers, one we understand“ singt, legt mir persönlich allerdings nah, dass es sich nicht wirklich um eine Beziehung, sondern eventuell um ein Hirngespinst des Protagonisten handelt, in der er sich vielleicht in eine asiatische Prostituierte verknallt hat, und sie Teile dieser Zuneigung erwidert, weil sie, nun ja, halt ihren Job macht:

„In that sunny room she soothes me,

Cools me with her fan.

We’re drifting, a thousand years go by.“

 

Dazu kommen dann Gang-Aktivitäten und ihr Bruder, Lou Chang, der ihn mit einem simplen „Hey buddy, you’re not my kind“ abtut. Die Stimmung des Textes und der Musik ist leicht skurril, etwas mysteriös, und so richtig erfährt man ja dann auch nicht, um was es wirklich geht, und wie der ganze Spaß ausging. 

Der Name „Green Flower Street“ ist für mich eine Referenz zu dem bekannten 1947er Lied On Green Dolphin Street von Bronislaw Kaper und Ned Washington, welches später zum Jazzstandard umfunktioniert wurde und genau im Zeitgeschehen - 1958 - von Miles Davis gecovert wurde und dadurch neue Bekanntheit erlangte.

 

„It sets the time and even invites you as a listener to participate as you (perhaps) already have that song in your own context. It makes it to more than Donald´s own world. Its an invitation.“

Mit Ruby Baby hat man den seltenen Fall, dass Fagen einen Song covert. Es erübrigt sich wohl zu erwähnen, dass selbst dieser alte Rock N’ Roll Klassiker hier zu einem waschechten Fagen-Song umarrangiert wurde und der eigenen Stimmung des Albums keinen Abbruch tut. 

Wie I.G.Y. baut Ruby Baby auf einem Shufflerhythmus auf. In der Tat glaube ich, dass The Nightfly dasjenige Fagen/Dan Album ist, auf dem die meisten ternären Stücke zu finden sind; das dritte ist das darauf folgende Maxine, das vierte dann das abschließende Kleinod Walk Between The Raindrops. Die Stimmung ist hier allerdings bluesiger, souliger als bei I.G.Y., allerdings wird der ursprüngliche Leiben/Stoller-Song um ein (wie soll es anders sein) vielseitiges Arrangement bereichert.

Im Intro spielen mehrere Instrumente mit- und gegeneinander, einzige Konstante ist hier die knallhart durchlaufende Hi-Hat und die tiefen Bass- und Klavierpfünde. Hierzu tauchen reihenweise immer mehr Instrumente mit eigenständigen Stimmen auf, wie Orgel, Klavier, Synthie, einzelne und im Satz auftauchende Saxofone, ein tiefer Synthiebass und eine Gitarre. Durch ein Forte-Piano und einen Kick der Bläser wird dem Wirrwarr nach ca. 30 Sekunden ein Ende gesetzt und Fagen fängt an zu singen. Das klingt geschrieben alles weitaus abgefahrener. In Wirklichkeit klingt es erstaunlich schlüssig und wie immer nicht überladen.

Der Drumgroove ist hierbei recht interessant: Die Hi-Hat spielt die ganze Zeit Achteltriolen, während die Bassdrum im ersten Takt auf die 1 und die 4-und Akzente setzt, im zweiten Takt aber die 1 weglässt. Man hat also immer abwechselnd erst einen Akzent und dann zwei Akzente in der Bassdrum. Eins von Fagens gern eingebrachten, kleinen, liebevollen Details, auf die man erst nach dem zwanzigsten konzentrierten Hördurchlauf aufmerksam wird. 

Wie es sich für einen Rythmn & Blues Klassiker gehört, hat man nicht wirklich Strophe und Refrain, sondern sich abwechselnde A- und B-Teile. Nach Abschluss des ersten B-Teils spielt die Bläsergruppe einen einzelnen Kick auf die 3-und, nach dem zweiten aber zwei auf die 3-und und 4-und. Raffiniert. Es folgt ein sehr geiles Klaviersolo, welches von Bass und Orgel begleitet wird, und eine Reprise der im Intro vorgestellten Themen. Für den letzten Refrain geht man dann einen Halbton (keinen Ganzton, wie sonst üblich) nach oben. Hier werden die Bläserkicks einfach weggelassen. Im Outro hört man dann mitklatschende und laut redende Menschen, als würde man sich bei einer Party befinden, auf der gerade dieser Song gespielt wird. Bläsersätze duellieren sich mit der Gitarre, dem Klavier und der Orgel, die alle drei gleichzeitig (!) solieren, bevor der Song ausgeblendet wird. Der Gesang meldet sich nur noch einmal kurz mit einem einzelnen „Ruby Ruby Ruby Baby“.

Man könnte sich die Frage stellen, wieso Fagen einen Song covern sollte, und wieso ausgerechnet diesen und an dieser Stelle. Ruby Baby wurde zuerst von den Drifters veröffentlicht, und zwar 1958 und damit genau in der Zeit, zu welcher sich die Geschichten von The Nightfly abspielen. Damit liefert Fagen eine eigene (sehr eigene!) Interpretation eines Songs, der zu seiner Jugend eventuell Teil des Soundtracks für viele Momente war. Eine weitere persönliche Theorie würde sich auf den Text beziehen. In Green Flower Street findet der Protagonist eine Frau, mit der er ein nicht reibungsloses Verhältnis führt. In Ruby Baby setzt Fagen diesen Gedanken möglicherweise fort. Seine Gefühle werden nicht erwidert, aber er zieht sein Vorhaben stur durch. Das bestärkt auch meine Theorie, dass es sich bei der Dame um eine Prostituierte handelt („Got some lovin money too, gonna give it all to you“) und es im Zusammenhang mit dem gewissermaßen fortlaufenden Handlungsstrang von The Nightfly in beiden Songs vielleicht sogar um eine und die selbe Frau geht. Diese Theorie ist natürlich rein persönlich, und dennoch garnicht so abwegig, wenn man bedenkt, dass es im folgenden Song Maxine um einen verzweifelten letzten Versuch eine (diese?) Liebe aufrechtzuerhalten, geht.

 

„You get the feeling reading Shakespeare and watching Cary Grant and Errol Flynn movies that women love classic romantic ideas and times... but seriously, they don’t."

Maxine ist eine der wenigen Balladen im Repertoire von Fagen/Steely Dan, doch wie auch schon Third World Man keine herkömmliche. Die Stimmung ist sehr einsam, traurig, verträumt, ein wenig hoffnungslos. Das jazzige Klavierintro impliziert eine 6/8-Jazz-Ballade mit Besenbegleitung und Kontrabass, das einsetzende, leicht monotone Schlagzeug durchbricht diese Erwartung. Bei diesem Intro kommt mir spontan Dave Brubecks Interpretation des 1951er Jazz Standards Alice In Wonderland in den Sinn; hier findet sich eventuell eine vage Verbindung zum folgenden New Frontier, in welchem Brubeck erwähnt und hoch gelobt wird. In der Tat hätte dieser Song in erwähntem Jazz-Soundgewand sehr gut funktioniert, doch die unübliche Umsetzung zählt wohl zur grandiosen Eigenheit eines Donald Fagen.

Die begleitende Fläche wird erzeugt durch Rhodes, Klavier, Gitarre und Bass, deren Stimmen so raffiniert gevoiced sind, dass sie einander ergänzen. Eine gänzlich fließende Stimmung wird allerdings durch den Schlagzeuggroove verhindert.

Dieses mal steht wirklich Fagens Gesang im Mittelpunkt. Als im Mix weitaus lauteste Komponente unterstützt kreiert dieser die harmonischen Wendungen und wird von den weiteren Begleitinstrumenten lediglich unterstützt. Sehr gewitzt sind die ausgesetzten Bläser, die abwechselnd den Gesang unterstützen, mit der kommentierenden Gitarre intervenieren oder einfach nur Fläche legen. Vier von fünf Strophen werden wieder im Satz gesungen, und zwar immer dann, wenn sie aus der Wir-Perspektive erzählt wird.

Maxines Struktur ist sehr interessant. Bis zum Saxofon-Solo besitzt der Song die für Jazz-Standards übliche, wenn auch sehr lang gezogene A-A-B-A-Form mit zusätzlichem Klavierintro. Im ersten A-Teil wird das Thema vorgestellt, im zweiten durch eine Gitarre umspielt. Der von Fagen Solo gesungene B-Teil stellt ein neues Thema vor, bevor auftauchende Bläsersätze in den dritten A-Teil überleiten. Ab dem Solopart weicht man dann von diesem Schema ab; normalerweise würde man über die komplette Form improvisieren. Es folgt aber nur ein kurzes Saxofonsolo über den B-Teil und ein letzter, im Satz gesungener A-Teil. Damit ist die Form A-A-B-A-B-A. Der Schluss klingt mit seinen im Quintfall verlaufenden Major-7-Akkorden und den endlich etwas dominanter werdenden Bläsern geradezu wie eine Bigband-Ballade. Bemerkenswert hierbei: der Song besitzt keinen Refrain.

Bei genauerer Beachtung des Textes schießen mir gleich mehrere Gedanken durch den Kopf. Einerseits stelle ich mir eine Highschool-Liebe vor, die von niemandem verstanden oder akzeptiert wird (Parallelen zu Romeo & Julia liegen hier auch nicht fern), bzw. als nichtiger Jugend-„Crush“ abgetan wird. Die beiden können es folglich nicht erwarten, von ihren Eltern, Lehrern und sonstigen „Besserwissern“ unabhängig zu werden und endlich in Frieden zusammen sein zu können („We’ve got to hold out till graduation“). Andererseits scheint mir selbst während der im Satz gesungenen Strophen stets der männliche Protagonist zu erzählen, trotz der Wir-Perspektive. Dieser Eindruck kann dadurch entstehen, dass mit Fagen hier nunmal ein Mann singt, im Vers „try to hang on, Maxine“ wird dieser Eindruck aber eindeutig. Das erweckt in mir das Gefühl, dass auch dieses Verhältnis nicht auf ausgeglichener Gegenseitigkeit beruht. Viel mehr könnten die Worte des Protagonisten eine Art Flehen darstellen, dass seine Partnerin ja nicht auf die Menschen um sich herum hören, sondern bei ihm bleiben solle, bis die beiden frei sind und endlich nach Manhattan ziehen, neue Freunde finden, oder gar Abenteuer in Mexico erleben können.

Unabhängig davon, welche der beiden Theorien man für sich selbst bevorzugt, erweckt der Text sicherlich bei jedem Hörer einige Erinnerungen an seine eigene Jugend, in der man immer alles besser wusste, und an die erste Liebe, die hundertprozentig für immer halten würde und das einzig Wahre fürs ganze Leben ist. Weiterhin sind viele Verse wunderbar lautmalerisch, wie die Vorstellungen ihrer eigenen surreal-illusorischen Zukunft:

„Mexico City is like another world

Nice this year they say

You’ll be my señorita, in jeans and pearls“

 

Oder

„We’ll move up to Manhattan and fill the place with friends

Drive to the coast and drive right back again“.

 

Wunderbar.

Die Phrasierung der Gesangsmelodie ist darüberhinaus sehr durchdacht. Manchmal folgt die Betonung eines Wortes und der damit verbundenen Zählzeit einfach eine Achtel später als man denkt, wie beispielsweise beim Vers „this suburban … SPRAWL“. Der Song wird mit einem langgezogenen „try to hang on, Maxiiiiiiiine“ wie immer textlich unaufgelöst beendet.

 

„Around 1955, 1956, when I was a little kid, your father was building a fallout shelter in the backyard and there was a special agency, The Civil Defense Agency. There was a special radio station called CONELRAD that would come on in case of a nuclear attack. It was in the air.“

Mit New Frontier beginnt die zweite und auf mich weitaus düsterer und trauriger wirkende Seite von The Nightfly. Ging es auf Seite A noch um eine wunderbare Welt, Optimismus, um Jugendlieben, deren Pointen (noch) unklar bleiben sollten, so nahm die Stimmung mit Maxine eine Wendung, die mit New Frontier vollzogen ist. Der erste Song der B-Seite überzeugt durch einen nach einem kurzen Bassintro sofort einsetzenden uniquen, felsenfesten 124bpm-Groove und einigen irre ausgeklügelten Stimmführungen. Zum Rhythmusfundament zähle ich die ohne Pause knallhart durch sämtliche Abschnitte des Songs gezogenen Keyboardkicks auf alle e-und-Zählzeiten (im Raster 1-e-und-e-2-und-e etc.). Die Keyboards bestimmen die harmonische Grundlage, während immer andere Instrumente durch einzelne Linien oder kurze Licks kommentieren. Die liegenden Keyboardflächen bestehen (wenn ich das richtig höre) aus unisono gespieltem Klavier und Rhodes. Interessanterweise wird die Bassstimme immer genau dann agiler, wenn die Keyboards eine Fläche legen und andersherum. So ergänzen sich die beiden sehr gut. Harmonisch ist der Song sehr schwierig einzuordnen, da er zwar einigermaßen um das tonale Zentrum A herumkreist, sich aber nie wirklich auf eine Tonika festlegt. Eine weitere Eigenheit dieses Songs ist, dass das Rhythmusfundament bis auf winzige Variationen (Öffnen der Hi-Hat, Beckenschlag, etc.) beibehalten wird, es dynamisch aber trotzdem Höhen und Tiefen gibt, die durch kommentierende oder begleitende Instrumente erzeugt werden. Sehr dominant sind auch hier wieder die vielen ausgesetzten Gesangsstimmen: Fagen beginnt in der Strophe immer einen Vers zu singen, der dann im Satz zu Ende gesungen wird. Die letzte Silbe und die zugehörige Harmonie wird stets stehen gelassen, während Fagen solo bereits den nächsten Vers singt. Jede Strophe besteht aus vier Versen und wird gefolgt von einem im Satz gesungenen Quasi-PreChorus, auf den dann kein Chorus folgt, da der „Well I can’t wait“-Teil auf mich mehr wie eine Bridge wirkt.

Am Ende des Songs setzen nach und nach Instrumente aus, während die Keyboards das Thema weiterspielen und von Shaker und Kuhglocke begleitet werden. Sobald die Glocke aussetzt, beginnt die Mundharmonika vom Anfang wieder zu solieren und beendet den Song synchron mit den Keyboards sehr schlüssig und beinahe fröhlich.

Die Stimmen sind mal wieder derart grandios phrasiert, dass einzelne Verse allein schon durch den Gesang grooven, am besten zu hören möglicherweise am Ende:

„Confess your passion, your secret fear,

Prepare to meet the challenge of the New Frontier“

 

Der Text bildet zu dieser groovigen, tanzbaren Musik einen Kontrast und geht seltsamerweise gleichzeitig mit ihm einher. Verse wie „Introduce me to that big blonde“, „Do you have a steady boyfriend“ oder „And stay together all night long“ scheinen bei oberflächlichem Hören „nur“ auf eine weitere Liebesbeziehung hinzuweisen, dieses mal sogar auf eine recht direkte Anmache. Dass dem nicht so ist, dürfte niemanden überraschen, und das offenbart sich bereits im ersten Vers, in welchem einem ziemlich radikal erklärt wird worum es geht:

„It’s just a dugout that my dad built,

In case the reds decide to push the button down“.

 

Richtig gelesen. Es geht tatsächlich um den kalten Krieg, um die Angst vor einem nuklearen Holocaust. Die wunderbare Welt, die noch in I.G.Y. erwartet und beschrieben wurde, ist also einer apokalyptischen, von Angst ergriffenen Situation gewichen. Die Floskel „New Frontier“ spielt in den Zeitgeist mit herein, ist sie doch ein Begriff aus J.F. Kennedys Acceptance Speech von 1960, der später eine stellvertretende Umschreibung von Kennedys Politik werden sollte.

Die Situation ist mehrfach deutbar, besonders wegen des ambivalenten ersten Verses der letzten Strophe „Let’s pretend that it’s the real thing“, welcher Schlussfolgerungen auf alle drei folgenden Theorien zulässt:

  1. Es könnte sein, dass der Protagonist die Dame einfach nur verführen möchte und sie deshalb in seinen Bunker zu einem Date einladen möchte. Diese unterirdischen Schutzräume waren zu jener Zeit eine recht verbreitete Sache. Trotzdem - Ein Date im eigens gebauten Bunker im Garten, ich könnte mir kaum etwas Romantischeres und weniger abschreckendes vorstellen. In diesem Fall funktioniert Fagen den Begriff New Frontier einfach zu einem neuen persönlichen Lebensabschnitt um, den er eventuell mit der Frau eingehen will.
    Der oben genannte Vers könnte sich also auf eine eigentliche Attacke beziehen. „Lass uns so tun, als wäre dies ein tatsächlicher Angriff, und lass uns die ganze Nacht hier unten bleiben“.
  2. Die zweite Idee erscheint mir plausibler; hier wird der Begriff New Frontier als eine Art Stunde Null angesehen. Der Protagonist sucht nach der richtigen Frau, um sie mit in seinen Schutzraum zu nehmen, falls „die Roten sich dazu entscheiden, den Knopf zu drücken“. Der in I.G.Y. beschriebene naive Glauben an die Technik und Wissenschaft schimmert hier wieder durch, angesichts der Tatsache, dass ein selbstgebauter Bunker unter der Erde einen wohl kaum vor der Detonation einer Atombombe retten wird, als wäre die ein kleiner Tornado oder Ähnliches.
    Der oben genannte Vers bezieht sich nun auf das Verhältnis der beiden. Der Protagonist will, dass sie sich vorstellen, dass diese Beziehung etwas ernstes ist und nicht nur ein oberflächliches Zwecksverhältnis.
  3. Das alles könnte auch nur ein Hirngespinst oder eine Traumvorstellung sein, dass der Protagonist als einziger mit seiner Traumfrau eine Attacke überlebt und mit ihr dann eine neue Welt gründet und bevölkert.
    Hier redet derjenige mit dem oben genannten Vers natürlich mit sich selbst, und redet sich ein, dass das alles wahr ist.

Der selbst geschaffene unterirdische Schutzraum steht für mich (natürlich neben seiner Rolle als eigentlicher Atomschutzraum) ein Stück weit als Metapher für Verleugnung. Man versteckt sich, man will der schlimmen Situation nicht ins Auge blicken. Der Fortschritt und die Wissenschaft wird uns retten (I.G.Y.). Damit geht die groovige, zum Tanzen anregende musikalische Umrahmung einher. Die Bridge eröffnet dem Hörer die eigentlichen Träume des Protagonisten; er möchte, wie auch schon in den vorherigen Songs, frei sein, nach Übersee reisen und dort studieren, endlich in einer problemlosen Welt leben.

Gespickt wird der Text von Anspielungen an diese Periode: Angefangen mit dem Namen des Songs, der ein Begriff von Kennedy ist, über Wingding, ein damaliger Begriff für eine belebte Feier, ein Parfüm namens Ambush, die damals beliebte Frisur French Twist, bis hin zu zwei wichtigen zeitgenössischen Persönlichkeiten: Tuesday Weld, eine der bekanntesten Schauspielerinnen dieser Zeit, und Dave Brubeck, ein brillianter Jazz-Pianist, der 1959 gerade sein bekanntestes Album, Time Out, veröffentlicht hatte.

New Frontier ist in seiner Gesamtheit einfach ein meisterhafter Song.

 

„I recall strolling through LSU’s Quadrangle late one night and as I glanced over to see the library, I noticed that someone had spray painted on the concrete wall fronting the building, in large capital letters, “I’M LESTER THE NIGHTFLY HELLO BATON ROUGE.” I chuckled to myself thinking that at least this vandal’s got good taste in music.“

Mit dem Titeltrack befinden wir uns rhythmisch schlussendlich in den Achtziger Jahren. Wir hören einen (wenngleich etwas langsamen) Discogroove, Wonder-Clavinet, eine gnadenlose Kuhglocke, weibliche Backgroundsängerinnen, einen funky Bass. Das Intro stellt das Thema des Refrains vor. In der Strophe wechseln sich laute, fast etwas dramatische Kicks und gegenspielende Stimmen von Keyboards und Gitarre ab. Alles verzahnt sich wie gewohnt perfekt. Im Refrain hat man irgendwann das Gefühl, man befände sich in einer Art Bridge, in Wirklichkeit ist dieser aber einfach sehr langgezogen. Generell macht der Song Gebrauch von unüblichen Strukturen; so bestehen die Strophen aus zwei neutaktigen Teilen und am Ende des Refrains wird auf einmal ein 2/4-Takt eingeschoben, ohne dass man es bemerkt. Sehr genial auch die Idee, die Hookline des Songs als Radio-Jingle zu gestalten. Immer wenn man „WJAZ - with Jazz and conversation“ hört, denkt man wirklich an den zugehörigen fiktiven Radiosender.

Wenn man auf den Text achtet, sieht man Donald Fagen als Lester The Nightfly vor sich. Einige Elemente des Coverartworks kommen wieder vor, wie die Chesterfield Zigaretten und Jazz-Musik, auf dem Bild dargestellt durch das 1958er Album Sonny Rollins And The Contemporary Leaders, wenn auch hier nicht explizit erwähnt. Wir bewegen uns vom Nordosten der USA in den Süden, nach Baton Rouge, Louisiana, an den Fuß des erfundenen Mount Belzoni. In der Tat existierte weder der Berg, noch der Radiosender jemals.

Der Protagonist lebt ein einsames Leben als DJ bei einem kleinen Radiosender, der mitten in der Nacht, wenn kaum jemand zuhört, Jazz-Platten auflegt und skurrile Anrufe von eigentümlichen Leuten entgegennimmt. Der Text schwankt zwischen Situationsbeschreibungen, Lesters Ansagen im Radio, dem Slogan des Sender im Refrain und einer Werbedurchsage.

„Respect the 7-second delay we use“ - hierbei handelt es sich um einen Umstand, der auftaucht, wenn ein Anruf beim Radiosender eingeht und durch das beim Anrufer laufende Radio eine Rückkopplung entsteht. „A race of men in the trees“ ist dann wohl Ausdruck für die rassistische Denkweise des Anrufers, die Lester mit einem sarkastischen „thanks for calling, I wait all night for calls like these“ abtut.

Die zweite Strophe beschreibt Lesters Umfeld. Er trinkt die ganze Nacht Kaffee und raucht, wie auf dem Cover abgebildet, doch er fühlt sich traurig und einsam:

„I've got plenty of java and Chesterfield Kings

But I feel like crying. I wish I had a heart like ice“

 

Mit der nächsten Strophe folgt dann, so wie ich es verstehe, eine Werbeanzeige:

„If you want your honey to look super swell

You must spring for that little blue jar

Patton's Kiss And Tell“

 

Die düstere, einsame Stimmung des Covers wird im Text hervorragend wiedergegeben und steht, wie bei Fagens Kompositionen so oft, im Kontrast zu der lebhaften musikalischen Untermalung.

 

„Cuban Breeze: Pour vodka and amaretto into a hurricane glass filled with ice cubes. Fill with pineapple juice. Garnish with a pineapple wedge and a maraschino cherry, and serve.“

Dieser Kontrast nimmt mit den letzten beiden Songs von The Nightfly seinen Höhepunkt. Man hat das Gefühl, die Musik werde immer positiver, während die Themen und Geschichten zunehmend sinistrer werden. Mit The Goodbye Look folgt nun ein Song, dessen Geschichte eventuell kein gutes Ende nimmt.

Wir hören eine Hi-Hat, einen von Jeff Porcaro superb gespielten Samba-Rhythmus und ein von Greg Phillinganes am Keyboard imitierten Xylophon. Das Rhythmusfundament aus Schlagzeug und Percussion von Starz Vanderlocket steht da wie ein Felsen und wird den gesamten Song über durchgezogen. Die Harmonik beruht größtenteils auf Dur- und Moll-251 Verbindungen und schwankt raffinierterweise fast im Sekundentakt zwischen Am und Dm. Instrumente werden charakteristisch Stück für Stück hinzugefügt. Es braucht schließlich ein 22-taktiges Intro bis Donald Fagen anfängt zu singen. Die Melodie in der Strophe besteht zu großen Teilen aus Achtel-Synkopenketten. In den (nebenbei bemerkt, sehr eigenartig positionierten) Bridges und Refrains wird Fagen durch mehrere Backgroundsängerinnen unterstützt. In diesem Song hört man darüberhinaus eine Akustikgitarre; nicht gerade typisch für den Steely Dan Sound. Die Stimmung ist entspannt, aber nostalgisch, und trotzdem auf eine sehr eigene Art und Weise beunruhigend.

„The surf was easy on the day I came to stay

On this quiet island in the bay“

 

Hier stellt uns Fagen bereits das erst Rätsel des Songs. Ein Besucher kommt auf eine karibische Insel, i.e. Cuba, und möchte scheinbar dort Urlaub machen, dennoch ist von vornherein klar, dass er für immer dort bleiben würde. Er erinnert sich daran, wie er begrüßt wurde von mehreren Frauen in weißen Kleidern und Steelbands, die nachts musizieren.

Der Text schwankt von Erinnerungen in die Gegenwart, in der alle Amerikaner von der Insel verschwunden sind, außer er selbst und seine Begleitung. Die amerikanische Botschaft ist unmöglich zu erreichen, die beiden kommen von der Insel nicht mehr runter. Warum?

„There’s been talk and lately a bit of action after dark

Behind the big casino on the beach“

 

Eine Revolution bricht herein. In der Tat geht es in The Goodbye Look recht eindeutig um den Umsturz des Batista-Regimes und damit die Cuba-Revolution durch Castro. Die politische Situation nimmt über Nacht eine komplette Kehrwende, „the rules have changed, it’s not the same“ und der Protagonist soll schlussendlich erschossen werden:

„Cause tonight they're arranging a small reception just for me

Behind the big casino by the sea“

 

Mit der aussichtslosen Situation kommt für mich ein Gefühl von Akzeptanz auf, denn der Protagonist scheint angesichts seines recht sicheren Todes kaum aufgebracht oder gar panisch. Das bestätigt natürlich auch die geradezu urlaubhaftige Musik. Als kleine Nebenbemerkung wird weiterhin von einem Mann erzählt, der einen möglicherweise von da wegbringen kann („I know fellow with a motor launch for hire“). Der abschließende Refrain impliziert aber, dass das Schicksal des Protagonisten möglicherweise keine Wendung zum Guten mehr nimmt.

„Pour me a Cuban Breeze, Gretchen“ - ein letzter Drink? Wer weiß.

 

"Ignore the impossibilities and make your way through life in such a way that nothing can stop you.“

Walk Between Raindrops entlässt einen als Hörer etwas überrascht aus der Parallelwelt von The Nightfly. Anders instrumentiert hätte dieser Song mit seinem schnellen Shuffle-Rhythmus und dem Walking Bass auch problemlos ein alter Big Band Klassiker aus den 50er Jahren sein können - eine weitere mögliche Referenz zum entsprechenden Zeitgeist. Das Intro, gespielt auf einer Hammond B3, hätte auf dem Klavier gespielt beinahe von Mr. Count Basie stammen können, die Synthiekicks auf die Undwerte erinnern an Saxofonsätze, wenngleich sie derartig tight sicherlich unspielbar wären. Hier und da meldet sich das Xylophon-Keyboard aus dem vorangegangenen Song mit gewitzten Kommentaren. Die ganze Stimmung ist sonnig, obwohl vom Regen erzählt wird - und erinnert damit ans besungene Florida, den Sunshinestate, in welchem es aber jederzeit zu schütten anfangen kann.

Wir befinden uns also in Miami, wo die beiden Protagonisten am Damm zwischen großen Hotels und tosenden Autos beieinander stehen. Es handelt sich um eine kurze, traurige Liebesgeschichte. Die beiden schworen sich ewige Liebe, doch schon der im ersten Vers erwähnte Schatten, der über Miami herzieht, impliziert anderes. Mit jedem Kuss wird das Wetter schlechter. Die beiden lieben sich, doch es gibt oft schlechtere Momente, und vielleicht passen die beiden einfach nicht zusammen.

Die letzte Strophe wird dann als Wunsch- oder Traumvorstellung des nun alleinigen Protagonisten erzählt. Er träumt von den Donnergeräuschen, die er immer  dann hörte, wenn sie sich küssten, er erinnert sich an diesen einen Moment am Damm bei den großen Hotels. Er denkt an die schönen Momente und die weniger schönen. Und er hofft, sie eines Tages, eines schönen Tages, an eben dieser Küste in Florida wiederzusehen, wenn sie ihren Regenschirm aufspannt und die beiden das Unmögliche vollbringen: Zwischen den Regentropfen, zwischen all den Problem und skurrilen Ereignissen, die um sie herum geschehen, gemeinsam nach Haus zu gehen, alles dunkle zu vergessen und einfach gemeinsam glücklich zu sein. Ob es je passiert - man erfährt es nicht.

 

Dieses kurze, sardonische Kleinod beendet The Nightfly mit seinem offen klingenden Cadd9(sus4)-Akkord ebenso unerwartet wie perfekt und bestärkt ein letztes mal die starke Ambivalenz der Texte, der Musik, sowie der Texte in Bezug auf die Musik und der Musik in Bezug auf die Texte. The Nightfly ist kein einfaches Album, auch wenn die Musik es teilweise nahelegt. Denn die klingt stellenweise tatsächlich recht erbaulich, positiv. Doch die schöne, naiv-optimistische Welt aus dem Opener des Albums weicht recht schnell persönlichen Themen, wie einseitige, hoffnungslose oder gescheiterte Beziehungen, Einsamkeit und Unverständnis, und streift sogar Angelegenheiten wie Verlust und Tod, nebst konkreten Ereignissen aus den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern, wie den kalten Krieg, nukleare Angriffe und die Castro-Revolution, bis man dann am Ende doch einen einsamen selbsterklärten Nonkonformisten vor sich hat, der sich in einer Welt voller Leute seines Schlages einzeln fühlt. Alone together, sozusagen. Somit beschreibt The Nightfly wohl nicht einfach nur biografische Ereignisse dieser Jahre, sondern spiegelt deren Zeitgeist, und damit Gefühle und Gedanken vieler Menschen wieder.

 

Mein Mendozanischer Malbec ist bald leer. Der Plattenspieler gibt ein leises Geräusch von sich, welches impliziert, dass das Album vorbei ist und der Tonarm in seine ursprüngliche Position zurückgewandert ist. Man befördert die Platte vom Teller wieder in die hellblau-ausgeblichene Papierschutzhülle und die dunkelgraue Papphülle mit Lester The Nightfly vorne drauf und schiebt sie zurück in den Schrank, direkt zwischen Don Henley und The Doors. Man kehrt zurück aus den amerikanischen Vororten, aus den Fünfzigern und Sechzigern, in seine eigene Welt.

Doch nicht für allzu lang.

Donald Fagens Reise und Ankunft sollten lange auf sich warten lassen, doch nach 11 und 24 Jahren schlussendlich folgen. 

 

 

Bewertung: 

 

Vergleichbar mit: 

Steely Dan

 
 
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