Genesis - Selling England By The Pound (1973)

11.05.2013 16:10

Veröffentlichung: 1973

Genre/ Stil: Progressive Rock

 

Besetzung:

Peter Gabriel - Gesang, Querflöte

Tony Banks - Keyboards

Mike Rutherford - Bass

Phil Collins - Schlagzeug, Gesang

Steve Hackett - Gitarre

 

Titelliste:

1. Dancing With The Moonlit Knight

2. I Know What I Like (In Your Wanderobe)

3. Firth Of Fifth

4. More Fool Me

5. The Battle Of Epping Forest

6. After The Ordeal

7. The Cinema Show/

        Aisle Of Plenty

 

 

The River Of Constant Change

 

Ein Wechselbad der Gefühle, eine Schatztruhe an wunderbaren Melodien, wo ein genialer Einfall den nächsten jagt, ein Musterbeispiel für das Zusammenspiel von Komplexität und Wohlklang; kurz gesagt, ein Meisterwerk der modernen Musikgeschichte haben wir hier vor uns: Genesis‘ viertes (eigentlich fünftes) Album zeigt die Band in der Blütezeit ihrer Karriere, als noch ihre Musik und deren verträumte, surreale, verwirrende, aber zu jeder Zeit filigrane und wunderschöne Art und Interpretation im Vordergrund stand. Wo Gabriel einige seiner abgedrehtesten und besten Geschichten geschrieben hat, Tony Banks in sein Spiel mehr Klassik und musiktheoretische Raffinesse in sein Spiel gebracht hat als seiner Zeit ein Keith Emerson, als Phil Collins noch am Schlagzeug saß, die hat singen lassen, die dazu bestimmt waren. Wie konnte eine Schülerband nur zu einer der größten und genialsten Wegbereiter des damals gerade erst erfundenen Progressive Rock werden?
Man hatte nicht mal ein Jahr vorher ein absolutes Meisterwerk namens Foxtrot geschaffen, das mit einem der wohl besten Songs überhaupt aufwarten konnte (Supper‘s Ready) und machte sich sofort ans Werk um unglaublicherweise ein weiteres nicht minder geniales Album herauszubringen. Diesmal setzt man ein wenig mehr auf die Schaffung eines Gesamtwerkes. Das gesamte Album hat einen astrein gesetzten Spannungsbogen. Jeder hat eine eigene Art, aber ergänzt auch den nächsten. Das verspielte Schlagzeug steht im perfekten Kontrast mit der ruhigen Gitarre und untermalt mit Rutherfords pumpenden Bass das verträumte und jederzeit geschmackvolle Keyboard von Banks. Über allem schwebt der theatralische, vielseitige und erzählerische Gesang des damals blutjungen und völlig verrückten Peter Gabriel.

Der eröffnet auch gleich das Album. „Can you tell me where my country lies?“ - Gabriel singt einfach fantastisch, von einem fast geflüsterten Klagen („It liiees with me“) bis hin zu einem rotzfrechen Meckern („You don‘t give a daaaammn“), und schraubt damit den Spannungsbogen langsam aber sicher hoch, zusammen mit den anderen Instrumenten, die nach und nach dazukommen. Es mündet in einem hymnischen Refrain und schließlich einem wilden Soloteil. Diese Art Aufbau sollte später im Progressive Rock noch ungefähr fünftausend mal kopiert werden. Hackett revolutioniert in seinem Spiel Sweeping und Tapping auf der Gitarre und setzt diese wie immer filigran ein. Banks‘ Keyboards bringen den Song zum Schweben und Collins holt ihn wieder auf den Boden. Einfach genial. Zum Schluss kommt ein fast zweiminütiger Ausklang (von manchen bezeichnet als „Geklimper“), der von vielen Fans als überflüssig oder gar störend empfunden wird. Dem muss ich aber entschieden widersprechen. Er ist einfach logisch und lässt den Hörer von dieser Odyssee wieder runterkommen.
Ein solcher Kracher ist das nachfolgende In You Wanderobe zwar nicht, aber witzig dennoch. Der Text ist Gabriel-typisch skurril und auch noch lustig. Der Song fängt mit einem Rasenmäher an (dazu muss man echt den völlig bekloppten Gabriel über die Bühne hüpfen sehen; ich durfte das zwar nicht miterleben, aber es gibt ja YouTube) und wird nach einen Schlagzeugauftakt zu einem recht gewöhnlichen Pop-Song, allerdings mit schwerem Ohrwurmpotenzial. Nach dem ersten mal Hören kann man hier schon mitsingen. Einige Fans dürften das allerdings auch nicht als Vorteil sehen. Allerdings werden die beim nächsten Lied gleich entschädigt. Firth Of Fifth ist für mich neben Supper‘s Ready und Dance On A Volcano das beste Lied von Genesis. Es beginnt mit fast klassischer Klaviereinleitung (Rhythmusfreaks, versucht mal mitzuzählen), bevor die Band einsetzt und Gabriel einmal mehr majestätisch grandios singt. Wer allerdings denkt, der Typ könne „nur singen“, der irrt, legt dieser hier doch einen wunderbaren Part an der Querflöte ab. Irgendwann übernimmt dann wieder Banks mit seinem klassisch angehauchten Klavier und steigert die ganze Sache harmonisch und man merkt, jetzt kommt entweder ein Ausbruch oder ein Höhepunkt. Die ganze Sache bricht aus in dem majestätischen Klavierthema vom Anfang. Grandios. Phil Collins haut in seine Felle dass die Wände wackeln und leitet über in das wohl schönste Hackett-Solo aller Zeiten, das Solo seines Lebens. Es ist unfassbar, wie der seine Töne stehen lässt, zittern lässt, wimmern lässt, einen verzaubern lässt. Am Ende wird der Kreis noch geschlossen und der Song abgechlossen mit Gabriels starker Stimme und einem kleinem Klavierausklang. Perfekt, unerreicht. The river of constant change.
More Fool Me schließlich wirkt am Ende der ersten Seite ähnlich wie das „Geklimper“ nach dem Opener- man kommt runter von dieser Odyssey. Das ist zwar kein Meisterstück, aber eigentlich ganz hübsch und mich stört es auch nicht.
Seite zwei beginnt mit einem Kracher, im Prinzip dem Nachfolger von Get Em Out By Friday, dem zweiten Musical von Gabriel. Er erzählt, tadelt, winselt, quiekt und brüllt. Einfach unfassbar, in wie viele Rollen er hier schlüpft. Battle Of Epping Forest ist Gabriels Paradestück des Albums. Es setzt sich weniger aus vielen Stücken zusammen, sondern ist aus einem Guss, obwohl es hier unzählige Wechsel, Stimmungs- und Lautstärkewechsel gibt. Die hier erzählte Geschichte ist zwar nicht so bewusst lächerlich wie die von Get Em Out, aber trotzdem sehr hörenswert und vor allem geil interpretiert. Gefällt mir noch besser als Get Em Out, muss man gehört haben.
After The Ordeal fegt los mit tadelnden, klagenden Akkorden. Eine Reise durch die Wüste folgt, so hört es sich für mich an. Zwei Genossen, Gitarre und Klavier, laufen miteinander, reden miteinander, harmonieren miteinander. Hier wird der klassische Hintergrund von Hackett deutlich. Das ist einfache Bach-Harmonik. Die Erlösung kommt mit Collin‘s Schlagzeug. Hier wimmert Hacketts E-Gitarre auch wieder herrlich, bis das Stück irgendwann ausklingt.
Zum Schluss gibt es mit dem Doppelpack Cinema Show/ Aisle Of Plenty noch mal die volle Genesisdröhnung. Akustische Gitarre, verhaltenes Keyboard, Gabriels wunderbarer Gesang. Er singt von Romeo und Julia, mit wunderbaren Worten, die man nach tausendfachen hören und lesen doch nicht versteht.. Trotzdem fühlt man sich in sie hineinversetzt. Wir bekommen Gabriels Flöte zu hören, herrlich folkig, zu jeder Zeit schön. Nachdem Collins Schlagzeug wieder eingesetzt hat, dauert es nicht mehr lange bis zum Finale des Albums. Der Song geht über vom folkigen akustischen ins elektrische und in einen Genesistypischen 7/8, untermalt von Collins wie immer fantastischem Schlagzeug. Ich hab keine Ahnung wie man so kraftvoll und doch so filigran und feinfühl spielen kann. Er setzt alles bedacht, aber doch vielseitig ein, hier reichen manchmal 4-5 Tomschläge, da hole ich schon mein Luftdrumset raus. Banks spielt hier eins seiner besten Keyboardsoli überhaupt, und das über mehr als 4 Minuten. Durch massig Stimmungen, Intesitäten, Instrumentierungen, bestückt mit wunderbaren Melodien und Harmoniewendungen. Das ist großes Kino. Wie viele Musiker sich später danach noch orientieren sollten..
Den Ausklang und gelungenen Abschluss bildet Aisle Of Plenty, im Prinzip eine Reprise des Openers, die sich direkt an Cinema Show anschließt. So schließt sich der Kreis des Albums perfekt und es wirkt geschlossen und rund, auch wegen des Spannungsbogens, den es besitzt. Gabriel erklärt die neusten Sonderangebote im Supermarkt nebenan.

Es ist sehr offensichtlich. Selling England ist ein Wahnsinnswerk, kann sich für mich auf eine Stufe mit Alben wie Yes‘ Relayer stellen und übertrifft auch im Gesamteindruck den großen Nachfolger. Über das ganze Album legt sich eine einzigartige Atmosphäre, eine ganz andere als bei Fotxtrot oder später A Trick Of The Trail. Sie ist so unglaublich verträumt und erzählerisch, aber bereits moderner als bei Nursery Cryme; ohne dass Selling England ein Konzeptalbum ist, erzählt es doch irgendwie eine Geschichte. Die fünf Recken legen meiner Ansicht nach mit diesem Album ihr bestes Album ab. Dieses Album muss man gehört haben. Meisterwerk.

 

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Vergleichbar mit: 

Die Frage ist, was HIERMIT vergleichbar ist.

 
 
 
 

 

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